Im März 2021 lief das Frachtschiff Ever Given im Suez-Kanal auf Grund. Sechs Tage lang blockierte es eine der wichtigsten Wasserstraßen der Erde. Dadurch wurden die Lieferketten vieler Unternehmen massiv gestört. Eine Studie der Universität Augsburg könnte ihnen künftig dabei helfen, ihre Versorgungswege robuster zu gestalten. Sie gibt Firmen ein objektives Verfahren an die Hand, mit dem sich die Störanfälligkeit von Lieferketten bewerten lässt. Damit lassen sich nicht nur Schwachstellen identifizieren, sondern auch zentrale Maßnahmen ableiten, die zur Steigerung der Resilienz ergriffen werden sollten. Die Studie ist in der Zeitschrift „Computers & Industrial Engineering“ erschienen.
Autos, Spülmaschinen oder Wärmepumpen bestehen aus vielen verschiedenen Komponenten. An der Herstellung dieser Teile sind oft wiederum verschiedene Zulieferer beteiligt. So entsteht ein komplexes Geflecht, angefangen von der Rohstoff-Gewinnung bis hin zum fertigen Produkt. „Lange Zeit versuchten Firmen vor allem, diese Lieferketten möglichst effizient und kostengünstig zu gestalten“, erklärt Prof. Dr. Axel Tuma vom Lehrstuhl für Production & Supply Chain Management der Universität Augsburg. „Sie bauten beispielsweise teure Lagerkapazitäten ab. Stattdessen setzten sie auf just-in-time-Konzepte, bei denen die einzelnen Komponenten genau dann geliefert werden, wenn sie benötigt werden.“ Der Forscher ist Mitglied des Zentrums für Klimaresilienz der Universität.
Dadurch wurden die Lieferketten jedoch immer empfindlicher gegenüber Störungen – sei es die Covid-Pandemie mit ihren Produktionsausfällen und den Einschränkungen des grenzüberschreitenden Verkehrs, der Ukraine-Krieg oder die Blockade des Suez-Kanals durch die Havarie von „Ever Given“ oder durch Huthi-Rebellen. Ein ganz aktuelles Beispiel ist der Einsturz einer Brücke im Hafen der US-Küstenstadt Baltimore. Zeitweise kam dadurch der Schiffstransport völlig zum Erliegen, was zu einer massiven Störung globaler Lieferketten führte.
„Die Auswirkung eines solchen Ereignisses lässt sich mathematisch mit einer sogenannten Resilienzkurve beschreiben“, erklärt Dr. Andrea Thorenz vom Institut für Materials Ressource Management der Universität Augsburg und ebenfalls Mitglied im Zentrum für Klimaresilienz. Das lässt sich am Beispiel des Brücken-Einsturzes demonstrieren: In Baltimore landen unter anderem Komponenten an, die viele Automobilhersteller in den USA für ihre Produktion benötigen. Durch die Hafenschließung ging die Zahl dieser Lieferungen deutlich zurück. Wenn das eine Auswirkung auf Zahl der hergestellten Pkw hat, zeigt sich in der entsprechenden Resilienzkurve eine „Performance-Delle“.
Resilienzkurve zeigt, wie empfindlich die Lieferkette ist
Die Kurve macht also sichtbar, wie sehr sich die Störung auswirkte: Wie rasch trat der Leistungseinbruch ein? Wie stark war er maximal? Wann erholte sich die Kurve wieder? Wie lange dauerte es, bis sie ihr ursprüngliches Niveau erreichte? „Wir stellen in unserer Studie Metriken vor, mit denen sich diese und andere Parameter für eine hypothetische Störung berechnen lassen“, erklärt Axel Tuma. „Damit lässt sich beurteilen, wie stark eine bestehende Lieferkette durch Ereignisse wie diese beeinträchtigt wird. Außerdem können wir so Empfehlungen ableiten, mit denen sich ihre Resilienz – also ihre Unempfindlichkeit – steigern lässt. So können wir etwa berechnen, wie sich größere Lager auswirken.“
Wie wirksam ausreichende Lagerkapazitäten zur Abpufferung von Störungen sein können, zeigte sich in Baltimore: Sie erlaubten es den Automobilunternehmen, trotz der Hafensperrung weiterzuproduzieren. „Lagerhaltung kann also zur Folge haben, dass eine Störung zu einem geringeren Performanceeinbruch der Resilienzkurve führt“, sagt Tuma. „Wir sprechen in diesem Fall von einer absorptiven Maßnahme. Mit den von uns entwickelten mathematischen Methoden lässt sich ihre Wirkung auf die Resilienz berechnen. In einem nächsten Schritt können wir dann die Kosten der Lagerhaltung mit den Umsatzeinbußen vergleichen, die die Hafensperrung ohne sie verursacht hätte.“
Die in der Studie erarbeiteten Metriken erlauben es Unternehmen also einerseits, zentrale Schwachpunkte ihrer Lieferketten zu identifizieren und deren Auswirkungen bei einer hypothetischen Störung zu ermitteln. Darüber hinaus helfen sie auch bei der Bewertung, welche Gegenmaßnahmen unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten besonders empfehlenswert sind. Dadurch können sich die Firmen besser für den Fall der Fälle wappnen – und das ist in unsicheren Zeiten wie diesen wichtiger denn je. Die Methodik lasse sich zudem auch auf öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser oder gar ganze Volkswirtschaften übertragen, betonen die Forschenden.