Der Streit um Brexit-Regeln für Nordirland droht zu einem Handelskrieg zwischen der EU und Großbritannien zu werden. Die britische Außenministerin Liz Truss hat EU-Vorschläge zur Änderung des sogenannten Nordirland-Protokolls brüsk zurückgewiesen.
Damit rückt eine einseitige Aufkündigung des mühsam ausgehandelten Vertragswerks immer näher. Die EU drohte, dann sei auch das Brexit-Handelsabkommen in Gefahr. Die Folge könnte ein Handelskrieg zwischen den wirtschaftlichen Schwergewichten sein - ausgerechnet während des russischen Kriegs gegen die Ukraine, der die Lebenshaltungskosten ohnehin in die Höhe treibt.
Streit spitzt sich zu
So hatten am 10. Mai Bundeskanzler Olaf Scholz und Belgiens Regierungschef Alexander de Croo davor gewarnt, die Regeln für Nordirland ohne Absprache zu ändern. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, David McAllister (CDU) sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Sollte die britische Regierung nun einseitige Schritte ergreifen, erwarte ich eine entschlossene Reaktion der EU.“
EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic machte ebenfalls am 10. Mai deutlich, dass eine Neuverhandlung des sogenannten Nordirland-Protokolls aus dem Brexit-Abkommen nicht zur Debatte steht. Darin sei sich die EU einig, sagte Sefcovic. Auch er warnte London davor, einseitige Schritte zu unternehmen.
Truss: EU-Vorschläge nicht angemessen
Die konservative britische Regierung gibt sich jedoch stur. Außenministerin Truss kritisiert: „Die aktuellen EU-Vorschläge gehen nicht angemessen auf die wirklichen Probleme ein, die Nordirland betreffen, und würden uns in einigen Fällen zurückwerfen.“
Ihr Ministerium warnte, die Handelsbeziehungen könnten sich verschlechtern und Waren des täglichen Bedarfs aus den Regalen in Nordirland verschwinden. Premierminister Boris Johnson nannte die Lage „sehr schwierig“.
Erleichterung bei Kontrollen unwahrscheinlich
Das Nordirland-Protokoll, das Johnson selbst vereinbart hatte, soll nach dem Brexit Kontrollen an der Grenze zum EU-Mitglied Republik Irland vermeiden und neue Konflikte zwischen Befürwortern und Gegnern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands verhindern.
Dafür müssen nun aber Waren kontrolliert werden, wenn sie von Großbritannien nach Nordirland gebracht werden. Im Oktober hatte die EU-Kommission deutliche Erleichterungen für den Warenverkehr in Aussicht gestellt, stößt damit - wie nun klar wird - aber auf taube Ohren.
Truss behauptete, die EU-Vorschläge würden zu mehr Kontrollen, Bürokratie und Hindernissen führen. „Wir haben immer eine Verhandlungslösung bevorzugt, aber werden nicht davor zurückschrecken, Maßnahmen zur Stabilisierung der Situation in Nordirland zu ergreifen, wenn keine Lösungen gefunden werden können.“
Gespräch am 12. Mai
Zwar besteht leise Hoffnung, dass Truss und EU-Kommissionsvize Maros Sefcovic bei einem für diesen Donnerstag (12. Mai) geplanten Telefonat die Wogen glätten. Doch in London mehren sich Anzeichen, dass Truss schon kommende Woche mit einem Gesetzentwurf den einseitigen Bruch des Protokolls vorbereiten könnte.
Experten wundern sich über die britische Taktik. Zwar hatte Johnson die Parlamentswahl 2019 auch dank des Versprechens „Get Brexit done“ (in etwa: „Den Brexit zu Ende bringen“) haushoch gewonnen. Doch der Slogan zieht nicht mehr. Vielmehr nervt das Thema viele Menschen - vor allem in Nordirland.
Nordirland: Bildung neuer Regierung gehemmt
Anders als von der britischen Regierung behauptet stößt das Protokoll bei der Mehrheit der Bevölkerung offensichtlich nicht auf Widerstand. Im Gegenteil: Die Mehrheit der neu gewählten Abgeordneten bei der Wahl zum Regionalparlament vorige Woche unterstützt die Regelung.
Der Streit um das Protokoll hemmt nun auch die Bildung einer neuen Regierung in der früheren Bürgerkriegsregion. Dabei hat sich die Wirtschaft dort schneller von der Pandemie erholt als in anderen Landesteilen.
Nordirische Unternehmen können ohne Zollhürden mit der EU handeln. Die Region gehört de facto weiterhin der EU-Zollunion und dem Binnenmarkt an - dank des Protokolls. Nordirische Wirtschaftsvertreter fordern die Parteien deshalb mit Nachdruck auf, zügig im Parlament die Arbeit aufzunehmen.
Doch der Verweis auf die angebliche Unzufriedenheit im pro-britischen Lager dient Johnsons populistischer Regierung zunehmend dafür, sich als Retter der Verbraucher zu geben. Dabei sind seine Aussichten auf eine Neuverhandlung des Protokolls gleich null. In Brüssel ist man sich einig, dass es dazu nicht kommen wird. (mwi/dpa)