Am nächsten Morgen war alles weg

Der Fahrer eines unverschlossenen Planenaufliegers staunte nicht schlecht, als er 33 Europaletten mit 462 LED-Fernsehern in Empfang nahm. Weder ihm noch seinem Chef war vor der Übernahme der Ladung bekannt, dass es sich um potenziell diebstahlgefährdete Ware handelte. Doch zum Umdisponieren blieb keine Zeit. Auf dem Weg zum Empfänger parkte der Fahrer über Nacht am Rand eines stark frequentierten Autobahnparkplatzes. Gegen 19 Uhr legte er sich schlafen. Als er gegen drei Uhr nachts aufstand, war der Auflieger leer. Das Oberlandesgericht (OLG) Celle verurteilte den Frachtführer zur Erstattung des gesamten Schadens von rund 48.000 Euro. Zum Schutz vor einem eventuellen Ladungsdiebstahl genüge es nicht, dass der Fahrer im Lkw übernachte, so die Richter. Länger als acht Stunden auf jegliche Überwachung zu verzichten, sei leichtfertig. Deshalb musste der Frachtführer den Schaden durch den Güterverlust gemäß Paragraf 435 Handelsgesetzbuch in voller Höhe ersetzen (Urteil vom 11. Dezember 2014, Aktenzeichen: 11 U 160/14). 300 Millionen Euro Schaden im Jahr Kaffeepause, Mittagessen, Nachtruhe - immer wieder müssen Fahrer nach einem Stopp mit Schrecken feststellen: Die Ware ist weg. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) schätzt, dass sich der Schaden durch Ladungsdiebstahl für deutsche Transportversicherer auf rund 300 Millionen Euro pro Jahr beläuft. Der volkswirtschaftliche Schaden liege um ein Vielfaches höher, sagt GDV-Sprecher Hasso Suliak. "Der Diebstahl von Waren aus Lkw, vor allem nachts, hat in den vergangenen Jahren auch zunehmend die Gerichte bis hin zum Bundesgerichtshof (BGH) beschäftigt", bestätigt Marcus Kirchhof, Fachanwalt für Transport- und Speditionsrecht in Köln. "Die Kernfrage lautet dabei immer: Kann sich der Frachtführer auf eine Haftungsbegrenzung berufen?" Die Haftung für Güterverluste ist im HGB geregelt. Danach haftet der Frachtführer verschuldensunabhängig für den Verlust des Gutes, und zwar für den Zeitraum von der Übernahme bis zur Ablieferung. Allerdings ist diese Obhutshaftung grundsätzlich begrenzt auf 8,33 Sonderziehungsrechte (SZR) für jedes Kilogramm des Rohgewichtes. Ein SZR entspricht etwa 1,25 Euro (Stand: 5. September 2016). "Handelt der Frachtführer jedoch leichtfertig und in dem Bewusstsein, dass ein Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintreten wird, liegt qualifiziertes Verschulden vor", sagt Kirchhof. Der Frachtführer kann sich dann nicht auf die Haftungsbegrenzung berufen und muss für den aufgetretenen Schaden wie im Eingangsfall in unbegrenzter Höhe einstehen. Das gilt vom Prinzip her sowohl für innerdeutsche Transporte, für die das HGB Anwendung findet, als auch für grenzüberschreitenden Transport nach dem Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR). "Sowohl HGB als auch CMR beschränken die Haftung grundsätzlich auf 8,33 SZR", weiß der Experte. "Für die Frage, ob qualifiziertes Verschulden vorliegt, verweist die CMR auf nationales Recht, sodass es zu einem gewissen Gleichlauf kommt." Maßstäbe für qualifiziertes Verschulden Um dem Frachtführer ein qualifiziertes Verschulden vorzuwerfen, muss dieser einen besonders schweren Sorgfaltspflichtverstoß begangen haben. Welche Sorgfalt anzuwenden ist, richtet sich nach den Umständen oder einer vertraglichen Vereinbarung zwischen dem Frachtführer und dem Absender", stellt Kirchhof klar. "Wurde vereinbart, dass der Fahrer nur auf bewachten Parkplätzen Halt machen darf oder der Lkw mit zwei Fahrern besetzt sein muss, liegt laut BGH im Zweifel qualifiziertes Verschulden vor, wenn der Frachtführer sich nicht daran hält." Existieren solche Vorgaben nicht, wird es komplizierter. Der BGH hat hier Grundsätze aufgestellt, nach denen das qualifizierte Verschulden regelmäßig von den Gerichten geprüft wird. Dabei kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an. Je größer die mit der Beförderung verbundenen Risiken, desto höhere Anforderungen seien an die zu treffenden Sicherheitsmaßnahmen zu stellen, sagt der Jurist. Von Bedeutung sind folgende Punkte: - Ist das Gut leicht verwertbar und damit besonders diebstahlgefährdet? Das gilt unter anderem für Elektronik, Tabakwaren und Kleidung. - Welchen Wert hat das transportierte Gut? Ab dem zehnfachen Wert der Grundhaftung gilt die Ware als besonders diebstahlgefährdet. - Wusste der Frachtführer von der besonderen Gefahrenlage? - Welche konkreten Möglichkeiten hatte der Frachtführer, eine gesicherte Fahrtunterbrechung vorzunehmen? "In der Gewichtung der einzelnen Aspekte sind die Gerichte letztlich frei, sodass es durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann", weiß Kirchhof. So sei derzeit etwa das OLG Hamburg dafür bekannt, relativ hohe Anforderungen an das qualifizierte Verschulden zu stellen, sodass es im Ruf stehe, eher frachtführerfreundlich zu urteilen. Kirchhof: "Letztlich hängt die Entscheidung aber immer vom Sachverhalt des einzelnen Falls ab." Fälle von Ladungsdiebstahl nehmen zu Wie groß das Problem des Ladungsdiebstahls ist, zeigen nicht nur die Schadenssummen des GDV. Ein Schlaglicht werfen auch die Fallzahlen der Landeskriminalämter - eine bundesweite Statistik existiert nicht. In Hessen wurden etwa im Jahr 2015 insgesamt 246 Fälle registriert, 2014 waren es 211. In Niedersachsen belief sich die Zahl der Ladungsdiebstähle 2015 auf 747, 2014 waren es noch 673. Auch andere Bundesländer melden einen Anstieg. "Die Fallzahlen beim Frachtdiebstahl werden sich nach meiner Einschätzung in den kommenden Jahren kaum nach unten entwickeln, sondern eher ansteigen", sagt Waldemar Lorenz vom Landeskriminalamt Niedersachsen. Gründe dafür seien weiterhin die unzureichende Zahl von gesicherten oder gut beleuchteten Parkplätzen, der immense Konkurrenz- und Preisdruck im Transportgewerbe, damit verbunden fehlende Sicherheitseinrichtungen an Fahrzeugen, immer größere Gütervolumen und die mitunter unzureichende Ausbildung der Fahrer. Wer nicht weiß, was er befördert, wird sich allerdings um Sicherheit wenig Gedanken machen. Ein entscheidender Faktor zur Minimierung von Haftungsrisiken ist daher die Kommunikation über die Diebstahlgefährdung des Gutes. Doch wer muss was wissen? Und wann? "Grundsätzlich kommt es hier allein auf die Kenntnis des Vertragspartners, also des Fixkostenspediteurs oder des ersten Frachtführers, an", erklärt Kirchhof. "Es reicht daher in der Regel nicht aus, erst dem Fahrer die Informationen zu geben, der das Gut abholt. Das ist zu spät", so der Jurist. Die Rechtsprechung gehe davon aus, dass der Fahrer den Frachtvertrag nicht mehr ändern kann. Das OLG Celle hat im eingangs geschilderten Fall jedoch anders entschieden: Wenn der Fahrer sehenden Auges diebstahlgefährdete Ware übernimmt, ohne die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, muss der Frachtführer sich das zurechnen lassen. "Diese Zurechnung der Kenntnis erfolgt bislang in der Rechtsprechung nicht so konsequent", betont Kirchhof. Der Fall ist momentan am BGH anhängig. Bleibt abzuwarten, wie die Karlsruher Richter entscheiden. Mehr zum Thema finden Sie im Dossier Kriminalität www.verkehrsrundschau.de/dossiers Rechtsprechung Diese Urteile zum Ladungsdiebstahl sollten Sie kennen - Computerteile: Ein Fahrer hatte sein Fahrzeug über Nacht auf einem unbewachten Parkplatz in Frankreich abgestellt. Planenschlitzer entwendeten das Transportgut. Der BGH urteilte, der Frachtführer habe keine Kenntnis von Art und Wert des Gutes gehabt, obwohl die Sendung im Frachtbrief mit 800 Computerteilen angegeben war. Diese Angabe sei nicht ausreichend, um dem Frachtführer das Bewusstsein von einer besonders diebstahlgefährdeten Ware zu vermitteln (Urteil vom 6. September 2007, Aktenzeichen: I ZR 121/04).- Notebooks: Der Versender hatte den Frachtführer von der besonderen Diebstahlsgefährdung des Transports von 3384 Notebooks in Kenntnis gesetzt und im Transportauftrag eine lückenlose Bewachung vereinbart. Der Lkw-Fahrer stellte das Fahrzeug für eine Stunde unbewacht auf einem Autobahnparkplatz ab, um Kaffee zu trinken und das WC aufzusuchen. Der BGH sah hier ein qualifiziertes Verschulden des Frachtführers, weil sich dessen Leute in erheblicher Weise über die Sicherheitsinteressen des Vertragspartners hinwegsetzten (Urteil vom 30. September 2010, Aktenzeichen: I ZR 39/09).- Flachbildschirme: Ein Fahrer, der 1320 Flachbildschirme transportierte, hatte nachts im Fahrerhaus geschlafen. Seinen Planenauflieger hatte er lediglich mit einer Zollschnur gesichert. Auf den Einsatz eines massiven Vorhängeschlosses hatte er verzichtet. Das Oberlandesgericht Hamburg verneinte eine leichtfertige Schadensverursachung durch den Frachtführer. Eine besondere Diebstahlsgefährdung bei Bildschirmen läge nicht vor. Zudem habe dem Fahrer das Bewusstsein gefehlt, dass wahrscheinlich ein Schaden eintreten werde (Urteil vom 26. Juni 2014, Aktenzeichen: 6 U 172/12).ir