Fahrbericht Volvo FH Electric: Strom funktioniert!

343 Kilometer Teststrecke mit einem batteriebetriebenen Lkw, noch dazu mit vollen 40 Tonnen? Trotz des aktuellen Elektro-Booms bei Pkw und leichten Lastwagen klingt dieser Plan irgendwie noch nach Science-Fiction. Weshalb wir unseren Ohren kaum trauten, als aus Göteborg die Anfrage kam, ob wir Interesse hätten, unsere Runde vollelektrisch unter die Räder zu nehmen? Denn bei Volvo Trucks ist das elektrische Zeitalter auch in der schweren Klasse schon eingeläutet. Bereits Mitte dieses Jahres soll die Serienproduktion des FH Electric starten. Womit die Schweden der erste Serienhersteller sind, der eine schwere, fernverkehrstaugliche Sattelzugmaschine liefern kann. Testprozedere wie beim Dieselmodell "Welpenschutz" ist für den Strom-Volvo auf der Testrunde trotzdem nicht drin, für ihn gelten die gleichen Testanforderungen wie für seine Dieselbrüder! Heißt: Dauertempo von 85 km/h auf der Autobahn, und auch an den Messbergen der Testrunde muss sich der Electric an großvolumigen Verbrennern messen lassen. Schließlich soll unser Test neben der Frage nach den Fahreigenschaften auch zeigen, ob man bei der Durchschnittsgeschwindigkeit Abstriche machen muss und wie viel Strom für die Beförderung der gewichtigen Fuhre draufgeht. Apropos Gewicht: Ein paar Tonnen müssen im Vorfeld von unserem Fliegl-Curtainsider weichen. Denn die sechs schweren Batteriepakete mit einer Kapazität von 540 kWh lassen das Leergewicht der 4x2-Zugmaschine auf happige 9,8 Tonnen klettern, womit der Electric mindestens zwei Tonnen mehr als ein vergleichbarer Diesel-FH auf die Waage bringt. Für "Verbrennergeschulte" ungewohnt ist der Startvorgang. Dabei ist es nicht das eigentliche Prozedere, das auch hier per konventionellem Schlüsseldreh geschieht. Es fehlt einfach die gewohnte Bestätigung, dass der Motor "läuft". Stattdessen ist in der Globetrotter-Kabine nichts zu hören. Und das bleibt auch so, sobald man die im Armaturenbrett integrierte D-Taste drückt (den Schalthebel am Sitz spart sich Volvo hier) und vorsichtig aufs Gaspedal drückt. Lediglich ein dezentes Summen ist aus Richtung des Maschinenraums zu vernehmen. Erst bei höheren Tempo entsteht so etwas wie eine Geräuschkulisse, für die allerdings die Abrollgeräusche der Reifen und der Fahrtwind verantwortlich sind, der sich vorrangig am Frontspiegel vor der Windschutzscheibe verfängt. Das fördert allerdings auch neue Herausforderungen zutage - für Volvo Trucks wie für jeden anderen Hersteller von elektrifizierten Trucks. Denn die Ruhe sensibilisiert die Ohren umso mehr. So empfindet man jedes kleinste Knistern in der gewohnt sauber verarbeiteten Globetrotter-XL-Kabine als störend, das man im Diesel niemals wahrnehmen würde. Und das Thema "Hören" bringt weitere neue Lernprozesse mit sich. Erstens: Man sollte bei Ortsdurchfahrten Fußgänger und Passanten tunlichst im Blick behalten! Lautlos plus großer Lastwagen, dass passt für viele einfach (noch) nicht zusammen, wenn sie sich anschicken, die Fahrbahn zu queren. Entsprechend erschrocken, ja gar ungläubig fallen die Reaktionen aus, wenn man sich vorbeugend warnend per Hupe bemerkbar macht. Eine Problematik, der Volvo Trucks beim Serienmodell aber mittels entsprechendem Dauerwarnton bei Stadttempo begegnen will. Aufpassen heißt es auch vor Kurven und Autobahnausfahrten, die man im E-FH regelmäßig zu schnell in Angriff nimmt. Auch hier fehlt die akustische Unterstützung, denn leise ist im Stromer eben nicht gleichbedeutend mit langsam ... Geballte Power von 666 Pferdestärken Hinzu kommt: Power liefert der E-Volvo im Überfluss. Die drei zwischen den Rahmenträgern hinter der Kabine platzierten Elektromotoren beschleunigen mit der Kraft von nicht weniger als 666 PS. Stärker verantwortlich für die souveränen Fahrleistungen ist allerdings das Drehmoment: Dabei sind es weniger die 2400 Newtonmeter an sich als die Tatsache, dass das Moment elektromotortypisch bereits ab Stillstand voll zur Verfügung steht. Hierin ist übrigens auch die Tatsache begründet, warum Volvo Trucks es beim Electric bei 2400 Newtonmeter belässt, wohingegen beispielsweise der FH16 mit seinen 664 Diesel-Pferdestärken 3213 Newtonmeter Drehmoment liefert. Erstens, weil es auch mit 40 Tonnen im Stromer tatsächlich nicht mehr braucht, und zweitens, weil das sofort zur Verfügung stehende Drehmoment des Electric deutlich brachialer auf die Komponenten einwirkt. Zudem hätten die Reifen Probleme, noch mehr Power überhaupt auf die Straße zu bringen. Für die Verwaltung der Antriebskraft sorgt mit dem I-Shift-Getriebe übrigens ein alter Bekannter, dessen Software die Volvo-Ingenieure für den E-Einsatz entsprechend anpassten. Angefahren wird in allen Beladungszuständen in Gang sieben. Erst bei knapp 35 km/h wird das erste Mal um zwei Fahrstufen hochgestuft, gefolgt von Gang zehn und zwölf. Das Gefühl, dass die Gänge deutlich langsamer gewechselt werden als beim Dieselpendant, trügt übrigens. In der Realität agiert I-Shift ähnlich schnell - wieder einmal spielt die leise Geräuschkulisse den Sinnen einen Streich. Eco-Roll und GPS-Tempomat an Bord An Steigungen agiert der Electric wie ein herkömmlicher Verbrenner. Möglichst lange setzt die Getriebesteuerung aufs Ganghalten, erst bei ernsteren topografischen Hindernissen kommt die elfte Fahrstufe zum Einsatz, die spätestens kurz vor Erreichen der Kuppe wieder eliminiert wird. Dann kommt der verbrauchsreduzierende GPS-Tempomat zum Zuge. Auch über einen Eco-Roll-Modus verfügt der Electric, hier macht der Stromer keinen Unterschied zum Diesel. Auch die Wirksamkeit der Motorbremse ist vergleichbar, wobei der Electric selbstredend keine "VEB+" an Bord hat. Vielmehr schaltet der Elektromotor talwärts, im Schubbetrieb oder beim Bremsen auf Generatorbetrieb um. Der dadurch höhere Widerstand im Triebstrang sorgt für die gewünschte Verzögerung, deren Stärke sich über insgesamt drei Stufen mit dem rechten Lenkstockhebel regulieren lässt. Nebenbei wird dabei die sonst ungenutzt verpuffende Bremsenergie in elektrische umgewandelt und zurück in die Fahrzeugbatterien gespeichert, was Verbrauch und Reichweite zugutekommt. 300 Kilometer sind mit 40 Tonnen möglich Wo wir gerade bei der Reichweite sind: 300 Kilometer sind mit dem FH Electric laut Herstellerangabe immer drin. Was wir bestätigen können. Nach 235 Kilometern stehen die Akkus laut Anzeige bei 33 Prozent Restkapazität. Eine Zwischenladung an der 350-kW-Säule am Autohof Hilpoltstein (A 9), auf dem wir bei jeder Testfahrt unsere gesetzlich vorgeschriebene Pause absolvieren, ist trotzdem vonnöten. Denn mit dem Kindinger Berg hat es auch die zweite Hälfte unserer Testrunde topografisch in sich. Auf diesem längsten und steilsten Autobahnteilstück auf der Strecke liefert der Electric endgültig den Beweis, dass er sich nicht hinter seinen Diesel-Kollegen verstecken muss. Weniger als dreieinhalb Minuten verstreichen für die 4,5 Kilometer lange Bergetappe, einige Sekunden weniger als die meisten Verbrenner der 500-PS-Klasse mit der gleichen Transportaufgabe benötigten. Das sorgt auf der gesamten Teststrecke für ein hohes Durchschnittstempo von 79,9 km/h. Wer also befürchtet, mit Strom im Tank deutlich an Tempo einzubüßen, den können wir beruhigen. Erst recht, weil der GPS-Tempomat dem Electric vor Bergkuppen Unterschwinger von minus zehn km/h verordnet. Für volle deutsche Autobahnen zu viel des Guten, was den Schweden sicher ein paar Sekunden pro Vorgang verlieren lässt, denn normalerweise sind wir beim Test mit minus fünf km/h unterwegs. Auf den Stromverbrauch dürfte sich das aber positiv auswirken. Er pendelt sich auf der Testrunde bei 1,10 kWh pro Kilometer ein. Ein Wert, der zeigt, dass der Elektroantrieb im Vergleich zum Diesel deutlich energieeffizienter arbeitet, wofür wir den Diesel-Verbrauch eines im Vorfeld getesteten FH 500 I-Save in kWh umgerechnet haben (siehe Tabelle Seite 63). Bleiben noch die Anschaffungskosten, die laut Volvo Trucks ungefähr dreifach über einer vergleichbaren Diesel-Zugmaschine liegen. Allerdings gewährt Vater Staat kräftig Hilfestellung, indem er aktuell für 80 Prozent dieser Preisdifferenz aufkommt. Bei der Frage nach einer leistungsfähigen Ladeinfrastruktur muss die öffentliche Hand dagegen erst noch liefern, was für viele Unternehmer noch das Hauptargument gegen den Stromer sein dürfte. Passen die Streckenlängen ins Reichweitenmuster und ist eine Nachlademöglichkeit unterwegs gegeben, lässt sich ein E-Truck aber schon heute wirtschaftlich einsetzen, das hat der FH Electric in diesem Test eindrucksvoll bewiesen. Technische Daten Motor Vollelektrischer Antrieb über drei ETP-Synchron-Elektromotoren, Wasserkühlung; Leistung: 3x 163 kW (666 PS), Gesamtleistung: 490 kW (666 PS), maximales Drehmoment: 2400 Nm ab 0/min Service: fortlaufend alle 13 und 18 Monate (hier vorrangig Sichtprüfungen der Hochvolt-Steckverbindungen) Kraftübertragung Automatisiertes Schaltgetriebe (Volvo Group I-Shift AT2412F), Range- und Splitgruppe, 12 Vorwärtsgänge, 4 Rückwärtsgänge, Hinterachs-übersetzung: i = 3,08; Kupplung: nicht verbaut Batterien & Ladezeiten Lithium-Ionen-Akkus mit modularem Aufbau, Kapazität pro Stack: 90 kWh, wahlweise 2, 4 oder 6 Stacks lieferbar, Kapazität Testfahrzeug: 540 kWh, Ladezeit (Wechselstrom): Wallbox max. 43 kW: 0–100 %: ca. 10 Std.; Ladezeit (Gleichstrom): bei 500 bis 750 V mit CCS2 und max. 250 kW: 0–100 %: 1,9 Std. (Werksangaben) Bremsen Zweikreis-Druckluftbremsanlage, Scheibenbremsen, Dauerbremse: Verzögerung über dreistufigen Rekuperationsmodus Maße & Gewichte Radstand: 3800 mm; L x B x H: 6080 x 2495 x 3948 mm; Leergewicht: 9800 kg Bewertung Volvo FH Electric Motor/Antrieb (max. 140) 134 Getriebe/Kupplung (max. 140) 126 Bremsen (max. 120) 104 Lenkung (max. 40) 36 Pedale (max. 20) 16 Fahrverhalten (max. 60) 54 Sicht (max. 50) 43 Klima/Lüftung (max. 50) 43 Sitze (max. 40) 35 Armaturen/Instrumente (max. 50) 42 Scheibenwischer (max. 30) 24 Fahrerhaus (max. 240) 198 Gesamtwertung (max. 980): 855 Testurteil + extrem niedrige Geräuschkulisse, souveräne Kraftentfaltung, gute Materialgüte und Verarbeitungsqualität innerhalb der Kabine, niedriger Energieverbrauch - im Vergleich zum Diesel geringe Reichweite, hohes Leergewicht, teurer Anschaffungspreis, bislang noch kein Hochleistungsladenetz für Elektro-Lkw vorhanden Verbräuche und Geschwindigkeiten: 342,8 km-Teststrecke kWh/km km/h Autobahn medium (40 t)A 9 Allershausen - A 93 Regensburg 1,03 84,70 Autobahn hügelig (40t)A 3 Regensburg - Nürnberg 1,15 84,04 Autobahn Rolletappe (40 t)A 9 Nürnberg - Langenbruck 1,08 84,05 Landstraße (40 t)Langenbruck - Dasing 1,18 62,01 Autobahn leicht (40 t)A 8 Dasing - A 99 AS M-Ludwigsfeld 1,08 84,06 Durchschnitt 1,10 79,99 BergwertungAutobahn (Kindinger Berg, A 9)Zeit: 3,26 min, Vmin 70 km/h, Gang: 11 Energieeffizienz im Vergleich Volvo FH Electric Volvo FH 500 I-Save*1 Verbrauch Testrunde pro 100 km*2 110 kWh/100 km 25,68 l/100 km*3 Verbrauch Testrunde pro km*2 1,10 kWh/km 0,2568 l/km Energieverbrauch pro km 1,10 kWh/km 2,51 kWh/km*4 *1: siehe VR 14/2020, *2: VerkehrsRundschau-Profitest-Runde: 342,8 km, *3 Ohne AdBlue-Anteil *4: Diesel: Dichte 830 kg/m³ flüssig, Heizwert 11,8 kWh/kg = 9,8 kWh/l Mehr zum Thema finden Sie unter #VolvoTrucks www.verkehrsrundschau-plus.de/hashtag In Kürze Ein kompletteres E-Programm als Volvo T, rucks bietet kein anderer Nutzfahrzeughersteller. Los geht die Palette mit dem Verteiler FL Electric (16,7 t GG). Hinauf bis 27 Tonnen Gesamtgewicht reicht sein größerer Bruder FE Electric. Abgesehen vom hier getesteten E-FH sind darüber hinaus auch die schwere Verteilerbaureihe FM sowie das Baumodell FMX mit vollelektrischem Antrieb lieferbar. Fazit Heute schon einsetzbar Es gibt genügend Verkehre, in denen sich der elektrische Volvo schon heute einsetzen ließe. Bei Transporten von Depot zu Depot mit entsprechender Nachlademöglichkeit beispielsweise. Und mit der Hilfestellung seitens des Staates lässt sich der Break-Even für einen wirtschaftlichen Einsatz des Elektro-Lkw deutlich schneller erreichen. In Sachen Fahrbarkeit dürfte der FH Electric auch den Skeptischsten nach wenigen Kilometern überzeugt haben. Die niedrige Geräuschkulisse macht nahezu süchtig und auch die Fahrleistungen lassen keinerlei Wünsche offen. jan.burgdorf@springernature.com

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