Logistik als Motor für die Circle Economy

Die Ressourcen der Erde sind endlich - in der Diskussion um zukunftsfähige Lieferketten fällt daher zunehmend der Begriff der "Circular Economy". Dabei handelt es sich um ein nachhaltiges Modell, bei dem es - vereinfacht gesagt - darum geht, Materialien und Komponenten aller Art in einem stetigen Kreislauf zu halten. Die nachhaltige Lieferkette ist also ein Kreis. Genauer gesagt, besteht die Kette aus mehreren miteinander verbundenen Kreisen. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Bisher landete weltweit ein Großteil der Autos mit all ihren Bauteilen am Ende ihres Produktlebenszyklus auf einem Wertstoffhof. Je nach Region wurden nur Bruchteile davon wiederverwertet oder recycelt. Zukünftig hingegen sollen alle Einzelteile aufgrund ihres Zustands kategorisiert und je nach Tauglichkeit in andere Fahrzeuge (als Ersatzteile oder auch in Neuwagen) eingesetzt oder anderweitig neu aufbereitet werden. Veränderte Lieferökosysteme Wichtige Elemente der Circular Economy sind also der erneute Einsatz großer Materialmengen sowie die Schaffung neuer Produkte aus Sekundärrohstoffen. Bereits beim Produktdesign sollen Langlebigkeit, Reparaturfähigkeit sowie Wiederaufbereitungs- und Rückführungsmöglichkeiten innerhalb des Kreislaufs bedacht werden. Bei der Materialauswahl spielen nachwachsende Rohstoffe und der Einsatz von Sekundärstoffen eine wichtige Rolle. Im eigentlichen Produktionsprozess sind vor allem die Effizienzsteigerung, die Umstellung auf erneuerbare Energien sowie die Weiterverarbeitung möglicher Nebenprodukte und deren Einspeisung in den Materialkreislauf bedeutsam. Die Entwicklung hinsichtlich einer Circular Economy wird durch anstehende Regulierungsmaßnahmen auf Bundes- und Europaebene befeuert und mündet somit zwangsläufig in veränderten Lieferökosystemen. Das Verbot von Einwegplastik für ausgewählte Produkte im Rahmen des EU Green-Deals ist hier nur ein Anfang. Wird das Supply-Chain-Operations-Reference-Modell (SCOR) des Supply-Chain Councils (SCC) als Archetyp für die klassische Lieferkette betrachtet, so wird schnell ersichtlich, dass die lineare Struktur nicht oder nur in unzureichendem Maße den Ansprüchen einer Circular Economy entspricht. So ist der Kreislauf zum einen vom Endkunden zum Vorlieferanten zu schließen und zum anderen um neue Aktivitäten, zum Beispiel Sammeln oder Aufbereiten, zu erweitern. Mikro-Kreisläufe zwischen den einzelnen Wertschöpfungsstufen - sogenannte Sub-Supply-Cycles - werden im eigentlichen großen Lieferkreislauf auftreten. Neue, zentrale Rolle für die Logistik Das neue SCOR-Modell der Circular Economy wird zukünftig so aussehen, wie es die Grafik auf Seite 23 anschaulich zeigt. Die Darstellung verdeutlicht, dass der Logistik in der zukünftigen Circular Economy eine zentrale Rolle zufallen wird, sie ist der Dreh- und Angelpunkt zukünftiger Geschäftsmodelle. Logistiker können sich so vom Dienstleistungsunternehmen zum wertschöpfenden Mitglied in der Lieferkette weiterentwickeln. Lineare Abfall- und Recyclingströme verschwinden größtenteils und werden durch vielfältige Rückführungsflüsse ersetzt. Hierbei handelt es sich um die Rückführung aufzubereitender Güter und um Leergutlogistik, denn auch ein Anstieg der Verwendung von Mehrwegbehältnissen ist zu erwarten. Dadurch entsteht eine zustands- und kreislaufspezifische Logistik, die lokal stattfinden wird. Durch die Individualisierung der rückzuführenden Güter bedarf es einer jeweils eigenen Logistiklösung mit einem hohen Reifegrad. Neue logistiknahe Geschäftsfelder sind zu erwarten, diese wertschöpfenden Aktivitäten bieten interessante und margenträchtige Erweiterungsfelder für Dienstleister. Dabei erfolgt z. B. die Dekomposition von Produkten in Baugruppen und Komponenten, d. h., die zurückgeführten Waren werden nach Bedarf und Zustand zerlegt, aufbereitet, repariert und einer sekundären Verwendung als Rohstoff oder Ersatzteil zugeführt. Notwendige Infrastruktur schaffen Diese Teile und Rohstoffe zirkulieren dann in den Materialkreisläufen diverser Unternehmen. Die hierzu nötige Infrastruktur muss größtenteils noch durch die Marktteilnehmer geschaffen werden. Heutzutage bestehen im Rahmen der Rückführungslogistik vornehmlich Strukturen, die für die Handhabung von Retouren von Neuprodukten aus dem E-Commerce-Bereich ausgelegt sind. Mit der zunehmenden Komplexität durch die individualisierten Rückflüsse bedarf es eines Updates. Neue Geschäftsfelder winken Im Allgemeinen wird die Circular Economy zu einer Reduktion des Rohstoffbedarfs führen und somit auch das Volumen globaler Beschaffungstransporte bei gleichbleibender Nachfrage der Produkte erheblich senken. Gleichzeitig werden die lokalen und regionalen Transportbedarfe deutlich steigen, insbesondere aufgrund der lokalen Warenzirkulation. Hier gilt es, nachhaltige Lösungen zu finden, die sich in der Gesamtbetrachtung nicht negativ auf den CO2-Fußabdruck auswirken und gesellschaftlich akzeptiert sind. Die Logistikdienstleister können dies stark beeinflussen - Stichwort CO2-neutrale Citylogistik. Wer zuerst handelt und die notwendige Infrastruktur für die individualisierten Warenflüsse schafft, bestimmt also die Logistik von morgen. Für die Logistikbranche bedeutet dies Herausforderung und Chance zugleich: Sie muss der Motor der Circular Economy werden. Bestehende Geschäftsfelder können erweitert oder verändert sowie neue Geschäftsfelder erschlossen werden. Die Nachfrage nach Value-Added-Services, zusätzlichen und vor allem alternativen Logistikkapazitäten, wird steigen und muss von der Logistikindustrie beantwortet werden - andernfalls werden andere Anbieter diesen Platz einnehmen und als neue Akteure das Spiel für sich bestimmen. Als Vorbild kann hier die Automobilindustrie dienen, bei der sich das Erbringen von Value-Added-Services, zum Beispiel die Vormontage von Komponenten, bereits seit Langem etabliert hat. Durch die zentrale Position, die die Logistikindustrie im Gesamtgefüge der Circular Economy einnehmen wird, wird sie auch - auf Basis der regulatorischen Bestimmungen - die technologischen Grundlagen schaffen müssen, um in der unvermeidbaren Rolle als Datenlieferant und Drehscheibe agieren zu können. Denn durch das neue Geschäftsfeld Circular Economy entstehen auch neue Datenströme vieler Prozessbeteiligter. Innovative Technologien helfen Den übergreifenden Daten- und Informationsaustausch sicherzustellen, wird zur großen Herausforderung für die Logistik. Zudem ist eine erhöhte Anzahl logistischer Transaktionen zu erwarten. Eine vorausschauende und entscheidungsunterstützende Planung und die übergreifende Transparenz für alle Teilnehmer der Wertschöpfungskette gilt es, zu erreichen. Neue Technologien werden zur Umsetzung der neuen Anforderungen einen maßgeblichen Beitrag leisten. Plattform-Technologien helfen, die vielen Schnittstellen zusammenzuführen, den Informationsfluss zwischen den Kreislaufteilnehmern zu gewährleisten und eine umfassende Transparenz - beispielsweise zur Lebenszyklusakte eines Produkts, einer Komponente oder eines Bauteils - sicherzustellen. Hierfür müssen industrieweit die Voraussetzungen geschaffen werden, durch die eine hohe Datenkonnektivität zwischen allen Markteilnehmern ermöglicht, die Integration eigener Prozessschritte verbessert sowie in der Konsequenz ein hoher Automatisierungsgrad erreicht wird. Darüber hinaus werden große Mengen an Informationen - teils in Echtzeit - im Sinne der Industrie 4.0 zwischen den Schnittstellenpartnern ausgetauscht werden. Auch hier ist die Logistik in der zentralen Position, die Erhebung und Verteilung der Daten sicherzustellen und die nötigen Voraussetzungen für einen reibungslosen Datentransfer zu schaffen. Nicht ohne Grund wurden unter den 7R (Hauptziele - Anmerkung der Redaktion) der Logistik auch "die richtigen Informationen" als neuer Treiber aufgenommen. Logistik-Transaktionen als Auslöser Weitere Bedeutung könnte die Blockchain-Technologie in dem Zusammenhang erlangen, die den Datenaustausch transparent und rechtssicher darstellen kann. Basierend auf den zur Verfügung gestellten Informationen könnten mittels "Smart Contracts" automatisierte Transaktionen zwischen den Akteuren der Circular Economy ermöglicht werden. Aufgrund der zu erwartenden Neusortierung von Geschäfts-, Eigentumsund Finanzierungsmodellen wird die Logistiktransaktion vielfach Auslöser von Geschäftsvorfällen sein und muss ein hohes Maß an Datensicherheit und Prozesstransparenz sicherstellen. Auch der digitale Zwilling - ein computerbasiertes Modell der analogen Welt - ist eine Basisanforderung der Circular Economy. Der digitale Zwilling kommt derzeit vor allem in der Produktion zum Einsatz. Eine Verwendung zur Szenarienbildung innerhalb der Logistik könnte in Zukunft an Bedeutung gewinnen - insbesondere im Kontext einer vorausschauenden Planung der Warenrückflüsse. Mittels komplexer Simulation wird eine sogenannte "Predictive Recirculation" möglich sein. So erstellt der digitale Zwilling Prognosen über Rückführungsmengen und dient als Entscheidungsunterstützer im Umgang mit zurückgeführter Ware. Dies ist umso wichtiger, da die Steuerung des Gesamtlogistiknetzwerks hinsichtlich Zeit- und Ressourceneffizienz bei gleichzeitig hohem Servicelevel ein entscheidender Erfolgsfaktor für das Gelingen der Circular Economy sein wird. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass die weitestgehend lineare Logistik als Teil der Supply-Chain von heute sich deutlich verändern wird: Sie wird erweitert, kleinteiliger und lokaler werden, um den Anforderungen der Circular Economy und ihrer Rolle als "Möglichmacher" zu entsprechen. Der Einsatz neuester Technologien und eine fortgeschrittene Digitalisierung sind dabei unumgänglich. Kooperationen lohnen sich Wirtschaftlich wird die Circular Economy die sogenannte Shared Economy begünstigen. Hersteller müssen aufgrund der neuen Materialflusskomplexität auf die gleichen Logistikdienstleister und Angebote zugreifen oder, wenn es der Markt nicht hergibt, gemeinsame Dienstleistungsgesellschaften gründen. Denn nur, wenn Volumen übergreifend gebündelt und Logistikressourcen optimal ausgenutzt werden, kann die Circular Economy auch wirtschaftlich und nachhaltig funktionieren. Um alle Effizienzen innerhalb der fortan lokaleren Logistik zu realisieren, ist auch eine unternehmensübergreifende Standardisierung von Produkteigenschaften in Betracht zu ziehen, die schon beim Produktdesign beginnt. Dabei sollten indes die verkaufsfördernden und abgrenzenden Eigenschaften des Produktes möglichst nicht beeinträchtigt werden. Hier gibt es schon innovative Zusammenschlüsse, die auch als markenbildende Maßnahme Wirkung zeigen können. So nutzt ein US-Baumaschinenhersteller sein Lieferanten- und Distributionssystem als Sammelnetz für Gebrauchtteile und verknüpft diese mit einem Pfand- und Rabattsystem, um den Wiedereintritt von gebrauchten Komponenten zu skalieren. Auch die Automobilindustrie versucht, ihren Reifegrad in der Rückführungslogistik zu erhöhen. Vereinzelt werden Technologien wie 3-D-Druck bei der Automobilaufbereitung eingesetzt, um zurückgeführte Autos in einen verkaufstüchtigen Zustand zu bringen. Erste "Circular Economy Factories" entstehen. Die Industrie ist im Wandel, aktuell fehlt jedoch eine flächendeckende Infrastruktur. Die Logistikverantwortlichen der produzierenden Unternehmen werden sich in der Circular Economy aufgrund der kürzeren Logistikzyklen und der größeren Anzahl an Akteuren einer noch höheren Dynamik bei Transport und Lagerung ausgesetzt sehen, die es zu planen und zu steuern gilt. Die Lösungen der Logistik sind aber nur so gut wie ihre gesetzlichen Rahmenbedingungen. Nicht ohne Grund fordern Verbände die gleichwertige Behandlung von Primär- und Recyclingrohstoffen, mit der auch der Warenfluss erleichtert wird. Auch die Strukturen für die physischen Warenbewegungen und Bearbeitungsschritte müssen in weiten Teilen noch geschaffen werden - hier sind insbesondere lokale und regionale Sammel- und Sortierstellen sowie Aufbereitungsanlagen und Werkstätten zu nennen. Wenn die Industrie diese Herausforderungen entschlossen angeht und sowohl Hersteller als auch der Gesetzgeber die notwendigen Grundlagen schaffen, überwiegen die Chancen für die Logistikbranche und man darf auf profitables Wachstum hoffen. In künftigen Ökosystemen werden Hersteller, Logistikdienstleister und Newcomer um neue Wertschöpfungsschritte konkurrieren. Gewinnen wird, wer zuerst mit einem hohen, datengestützten Automatisierungsgrad die übergreifenden Abwicklungskosten attraktiv macht. Martin Neuhold, Leader Supply Chain & Operations Europe West bei Ernst & Young; Tomas Henninger Director, Logistics & Fulfillment Lead Europe West bei Ernst & Young Advisory Services. Autoren Martin Neuhold, Leader Supply Chain & Operations Europe West bei Ernst & Young Nach seinem Chemieingenieur-Studium war Martin Neuhold Projektingenieur bei Unilever und anschließend als Produkt- und Prozessentwickler tätig. Von 2000 bis 2007 war er Senior Projektmanager bei Celerant Consulting. Bis Ende 2017 war er Partner bei Kienbaum Consultants International. Bei Ernst & Young (EY) ist Neuhold Leader Supply Chain & Operations Europe West und betreut global die Weiterentwicklung der Circular-Economy-Beratungsthemen. Tomas Henninger, Director Logistics & Fulfillment Lead Europe West bei Ernst & Young Advisory Services Tomas Henninger begann seine berufliche Laufbahn nach dem Betriebswirtschaftsstudium 2006 bei der Schenker Deutschland AG im Bereich Automotive-Kontraktlogistik. Anschließend war er neun Jahre als Berater im Bereich Supply Chain & Operations bei Accenture tätig und begleitete industrieübergreifend internationale Kunden bei Transformationsprojekten im Bereich Logistik und Order-Fulfillment. Seit 2016 ist er für Ernst & Young (EY) im Kompetenzfeld Supply Chain & Operations tätig und verantwortet den Bereich Logistics & Fulfillment in Deutschland und in der Region Europa West.

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