„Im Straßengüterverkehr stehen geschätzt ein Drittel weniger Lkw-Kapazitäten im Vergleich zur Zeit vor dem Pandemieausbrauch zur Verfügung. Viele ältere Lkw wurden verschrottet, die Fahrer haben die Fahrzeuglogistik selbst verlassen, weil sie woanders gebraucht werden, oder für andere Industriezweige zu fahren“, erklärt Mike Sturgeon, Association of European Vehicle Logistics (ECG)-Exekutivdirektor. Das war nicht die einzige negative Zukunftsprognose bei der ECG-Konferenz in Wien. Die alle betreffende Krise bei der Produktions- und auch Endkundenversorgung war dabei das Topthema. Hatten die OEM 2021 vor allem mit schwankenden Lieferungen der Logistiker zu kämpfen, müssen die Hersteller nun aktuell versuchen, sich am Markt überhaupt Transportkapazitäten zu erkämpfen.
Wie ist die Lage der Fertigfahrzeuglogistik momentan?
Momentan kalkuliert die Branche mit einem Anstieg des Neufahrzeugvolumens, jedoch wird der von fehlender Verfügbarkeit der Verkehre abhängen, ob sich diese Chance nutzen lässt. Weil sich die Kunden der Transportdienstleister sehr volatil verhielten, scheuten diese signifikante Investitionen vor allem in ihre Fuhrparks, aber auch andere Infrastrukturbereiche. Faktoren wie der Fahrer- sowie Rohstoff- und Ersatzteilmangel bei explodierenden Kosten verstärkten diesen Abwärtstrend.
"Die Ineffizienz des Transportwesens verschärft sich durch das Ausweichen der OEMs auf den Spotmarkt. Das ist ökonomisch keine Lösung. Wir müssen dafür sorgen, dass das Rahmenvertragsgeschäft wieder funktioniert."
ECG-Präsident Wolfgang Göbel
Auch die Seefracht ist stark angeschlagen
Abseits der Straße gibt es ebenfalls erhebliche Kapazitätsengpässe. Für Shortsea-Shipping-Verkehre benötigte Schiffe wurden einerseits aufgrund ihres Alters abgewrackt und sind andererseits aufgrund gestiegener Nachfrage nach Asien verchartert. In der Seeschifffahrt kommen die Überlastung in den Häfen sowie der Arbeitskräftemangel hinzu. Die langen Bauzeiten für neue Schiffe versprechen keine schnelle Abhilfe.
Steven van Arsdale, Manager Automotive bei PwC, der auf besagter ECG-Konferenz einen Vortrag von PwC hielt, schätzt, dass sich die Anzahl der in China hergestellten Fahrzeuge, die nach Europa verkauft und somit auch transportiert werden, bis 2025 im Vergleich zu 2022 fast verdoppeln wird – ein deutliche Schere zwischen Bedarf und Leistungspotenzial.
Schienenverkehr ebenfalls immens betroffen
Der Schienenverkehr leidet ebenfalls massiv unter einem jahrelangen Investitionsstau in die Infrastruktur und den daraus resultierenden Wartungsarbeiten. Darüber hinaus ziehen es die Lokomotivführer vor, für Unternehmen zu arbeiten, die andere, als stabiler wahrgenommene Rahmenbedingungen anbieten können als jene aus der Fahrzeuglogistik. Diese und weitere Faktoren wie Bauarbeiten auf den Strecken sowie vor allem die jüngste Verordnung zur Bevorzugung von Energie als Frachtgut haben allein auf dem deutschen Markt Schätzungen zufolge zu einem Mangel an Schienenkapazitäten von etwa 35 bis 40 Prozent geführt.
"Es besteht ein reales Risiko, dass sich die Fertigfahrzeuglogistiker keine ausreichenden Kapazitäten sichern können, um die Autos an ihr Ziel bringen zu können. Eine kurzfristige Besserung der Kapazitätslage ist aktuell nicht in Sicht."
Wie könnte es laut ECG weitergehen?
Verpflichtungen zu Mindestmengen und Ausgleichszahlungen, unbefristete Verträge, verbesserte, zuverlässige Prognosen, ein Ausgleich für Kostensteigerungen sowie ein
verstärkter Dialog zwischen der Automobilindustrie und ihren Zulieferern sind schon seit einem längeren Zeitraum Hauptforderungen der ECG, um Partnerschaften auf
Augenhöhe innerhalb der Automotive-Branche zu fördern. Die notwendigen Voraussetzungen sind gegeben, es wird dennoch einige Jahre dauern, bis die verlorengegangenen Kapazitäten wiederhergestellt und ausgebaut sind. Dazu müssen die Logistiker das Vertrauen in den Markt zurückgewinnen, um investieren zu können.
Mit der beständigen Evaluierung und Aktualisierung der eigenen FVL-Prognosemethode sowie der Entwicklung eines Kostenindex für den Fertigfahrzeuglogistik-Sektor und den trimodalen Verkehrsträgern, gibt die ECG den Unternehmen Instrumente an die Hand, welche einen wichtigen Beitrag zur Erholung des Marktes leisten.
„Einerseits haben einige Hersteller diese Missstände bereits erkannt und passen ihre Verträge und die damit verbundenen Geschäftsbeziehungen entsprechend an. Andererseits ist bei vielen OEMs nach wie vor eine hohe Diskrepanz an Erwartungen und Anforderungen zwischen den Produktionsstätten und dem Einkauf wahrzunehmen“, analysiert Mike Sturgeon abschließend.
Um das Verständnis für die Herausforderungen und Probleme der Branche zu verbessern, hat die ECG einen Briefing-Bericht über die Kapazitätskrise veröffentlicht, in dem die Probleme ausführlicher zusammengefasst sind.