Ein Austritt mit ungewissen Folgen

Remain or leave, bleiben oder verlassen: So simpel lauteten die zwei Antworten, die die Briten am 23. Juni 2016 auf ihrem Zettel zum Brexit stehen hatten. Was dann folgte, ist bekannt. Die Mehrheit (51,89 Prozent) stimmte für den Austritt aus der Europäischen Union (EU). Brexitdebatte bremst den Außenhandel Wohl nie zuvor in der europäischen Geschichte hat eine scheinbar so einfache Volksbefragung solch gravierende Konsequenzen nach sich gezogen. In den zwei Jahren danach folgten endlose Debatten nicht nur in Großbritannien und zahlreiche Rücktritte von britischen Ministern. Und ein Ende ist bis heute nicht absehbar. Dieser Aufruhr hat einen guten Grund: Denn der Brexit hat gravierendere Konsequenzen für die Bewohner der Insel, aber auch für den Rest der EU, als die Brexit-Befürworter es ihrem Volk vor der Wahl haben weismachen wollen. Darauf deuten Entwicklungen hin, die sich schon heute beobachten lassen, lange bevor der Brexit überhaupt beschlossen wurde. So sind im ersten Halbjahr 2018 die deutschen Exporte nach Großbritannien - gemessen am Gewicht gegenüber dem Vorjahreszeitraum - um 8,1 Prozent eingebrochen. In umgekehrter Richtung betrug das Minus sogar 15,2 Prozent, wie aus dem Export-/Import-Seismographen hervorgeht, den das Softwarehaus AEB und das Institut für Angewandte Logistik (IAL) herausgeben. "Die bisherigen Rückgänge sind nur ein Vorgeschmack darauf, wenn nach dem Brexit Zölle und längere Lieferzeiten aufgrund von Zollformalitäten die bisherige Arbeitsteilung unwirtschaftlich machen", lautet die wenig positive Einschätzung des Außenwirtschaftsexperten der AEB, Ulrich Lison. Guido Belger, Leiter der Abteilung für Rechts- und Versicherungsfragen im Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL), geht gleichfalls davon aus, dass der Austritt Großbritanniens dessen Außenhandel beeinträchtigen wird: "Nach einem Brexit wird es Einbrüche bei den Handelsströmen geben." Die Auswirkungen wird das Transportgewerbe zu spüren bekommen, sie treffen auch deutsche Unternehmen. "Im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern sind im grenzüberschreitenden Verkehr von und nach Großbritannien noch relativ viele deutsche Transportbetriebe tätig", sagt Daniel Torres, Referent für den internationalen Verkehr im BGL. Insgesamt über- oder unterqueren nach Angaben des BGL jährlich etwa drei Millionen Lkw aus der EU den Kanal in Richtung Vereinigtes Königreich. Davon haben sechs Prozent der Fahrzeuge ein deutsches Kennzeichen. "Jährlich fahren etwa 190.000 Lkw mit deutschem Kennzeichen von Deutschland ins Vereinigte Königreich", schätzt Torres. Die Anzahl von Fahrzeugen aus anderen Staaten, die Beförderungen zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich durchführen, dürfte laut Torres allerdings um ein Vielfaches höher liegen. 21.000 EU-Regeln sind zu beachten Welcher gewaltige Kraftakt hinter dem Austritt steht, verdeutlichen auch die komplexen Verhandlungen zum Brexit. "Rund 21.000 EU-Regeln und Gesetze hätten erörtert werden müssen", sagt Belger. Geht man von insgesamt 500 Arbeitstagen vom Austrittsbeschluss bis zum voraussichtlichen Ausscheiden Großbritanniens aus, hätten die Verhandlungspartner demnach pro Verhandlungstag 40 Gesetze abarbeiten müssen. Weshalb er das Aushandeln eines Brexit-Abkommens auch als "eine Mammutaufgabe" bezeichnet. Die Wirtschaft aber reagiert jetzt schon und trifft Vorkehrungen. Ein Beispiel dafür ist die BMW-Group. Der bayerische Automobilbauer hat vier Werke in Großbritannien. Die Produktion des Minis im Werk Oxford soll gleich nach dem Brexit für etwa einen Monat still stehen. "Damit wollen wir Risiken einer möglichen Unterbrechung der Teilelieferung durch einen Brexit ohne Folgeabkommen mit der EU minimieren", wird eine BMW-Sprecherin in den Medien zitiert. Ein wichtiger Knotenpunkt - nicht nur für den Zwischenwerksverkehr der Automobilidustrie - ist Dover in England. Der Fährhafen ist derjenige, an dem in Großbritannien die meisten Lkw-Fähren an- und ablegen. Bis zu 10.000 Lkw täglich nutzen den Hafen als Anlaufpunkt, um Transporte zwischen der Insel und dem europäischen Kontinent abzuwickeln. Kommt es jetzt zu Zollkontrollen, werden lange Staus befürchtet. Würden die britischen Grenzbeamten für jeden Lkw nur zwei Minuten benötigen - was für eine Zollkontrolle außergewöhnlich kurz wäre - ist als Folge mit einem 27 Kilometer langen Dauerstau vor dem Hafen zu rechnen, hat das Hafenmanagement von Dover ausgerechnet. Ausweichmöglichkeiten gibt es nicht in der Stadt, die direkt an einem Kreidefelsen liegt. An den Fährstandorten auf dem europäischen Festland in Calais und Dünkirchen ist mit ähnlichen chaotischen Zuständen zu rechnen. Die Transportunternehmen und Speditionen können sich also auf lange Wartezeiten einstellen. Veränderungen, die sie in den Verträgen mit ihren Auftraggebern berücksichtigen müssen (Stichwort Standgeld), und zu denen die VerkehrsRundschau in den kommenden Teilen der Brexit-Serie (siehe oberer Kasten Seite 21) Tipps geben wird. Mit Großbritannien verlässt nicht irgendein Land die EU. Es ist von der wirtschaftlichen Bedeutung her die Nummer zwei in der Union nach Deutschland, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, das in der EU erwirtschaftet wird. Zudem ist das Land ein wichtiger Handelspartner für Deutschland. Hinter den USA, Frankreich und China ist Großbritannien 2017 der Staat, in den wertmäßig betrachtet die meisten Güter exportiert werden. In der Rangliste der wichtigsten Einfuhrländer für Deutschland liegt das Königreich immerhin auf Platz elf. Zahlen, die verdeutlichen: Von einer wirtschaftlichen Abschwächung in Großbritannien wäre auch die deutsche Wirtschaft massiv betroffen. Hier ist an erster Stelle die Automobilindustrie zu nennen. Denn 29,5 Prozent der Exporte (wertmäßig) von Deutschland nach Großbritannien entfallen auf Kraftwagen und Kraftwagenteile. Daher beobachtet man bei den deutschen Automobilherstellern die Entwicklung zum Brexit genau und mit großer Sorge. So könnte ein deutsches Exportauto nach einem harten Brexit für den britischen Konsumenten bei Weitergabe aller Kostensteigerungen im Schnitt um 5600 Euro teurer werden, hat Deloitte ermittelt. Weiterhin prognostiziert das Beratungsunternehmen, dass der Automarkt in Großbritannien daraufhin einbrechen werde. Deutsche Autobauer würden in Großbritannien aufgrund des harten Brexits nur noch jährlich 550.000 Einheiten absetzen können statt derzeit 810.000. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere betrifft die Produktionswerke in Großbritannien. Da gibt es Lieferbeziehungen in beide Richtungen. Hier ist vor allem BMW betroffen, das neben dem Mini-Werk auch an anderen Standorten in Großbritannien Motoren fertigt. "Für die BMW Group ist das Vereinigte Königreich nicht nur unser viertgrößter Absatzmarkt, sondern die dort von uns produzierten Fahrzeuge und Fahrzeugteile werden im Gegenzug auch überwiegend auf den Kontinent exportiert", sagt Stephan Freismuth, Zoll-Manager der BMW Group. Wirtschaft fordert reibungslosen Zoll Stark betroffen vom Brexit wäre auch der Maschinenbau in Deutschland. 10,9 Prozent alle Güter, die auf die Insel transportiert werden, entfallen auf dieses Segment. Dahinter folgen Datenverarbeitungsgeräte, elektrische Erzeugnisse (7,3 Prozent), chemische (7,2 Prozent) sowie pharmazeutische Erzeugnisse (6,0 Prozent). Auch im Falle eines weichen Brexits wäre damit nicht nur auf britischer Seite ein Mehraufwand bei der Zollabwicklung verbunden, entsprechende Maßnahmen müssten auch auf dem Kontinent ergriffen werden. "Aus unserer Sicht ist die zeitgerechte Anpassung der Zoll- und Logistikprozesse zur Aufrechterhaltung der Business Continuity zwischen UK und EU unabdingbar", fordert daher BMW-Zoll-Manager Freismuth. Doch die Planungen der Bundesregierung zur Vorbereitung auf den Brexit erscheinen bislang eher vage. Die Partei "Die Linke" hatte gefragt, ob eine Erhöhung der Zahl der Zollbeamten geplant sei. Die Bundesregierung hatte daraufhin geantwort, dass im Falle einer Übergangszeit bis Ende 2020 sich der durch den Austritt bedingte Personalmehrbedarf im Wesentlichen dadurch decken ließe, dass ein großer Teil der jetzt und künftig ausgebildeten Zöllner direkt nach ihrer Ausbildung in dem vom Austritt Großbritanniens besonders betroffenen Bereichen eingesetzt werde. Millionen zusätzliche Zollanmeldungen Kommt es hingegen zum harten Brexit, sollen laut Antwort der Bundesregierung vom 20. September 2018 die vom Austritt besonders betroffenen Bereiche "vorübergehend durch interne Geschäftsaushilfen" verstärkt, einige Tätigkeiten in den besonders betroffenen Bereichen verlagert werden und man wolle "externe Beschäftigte" auf vakante Dienstposten einstellen. Ob diese Antwort Freismuth, die anderen Industrie- und Handelsvertreter sowie die Transportdienstleister zufriedenstellt, ist zu bezweifeln. Vor allem, wenn man sich die Zahlen ansieht, die der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) erhoben hat. Für den Fall, dass Großbritannien nicht mehr Mitglied des Binnenmarktes ist, müssen alle Unternehmen, die mit Großbritannien Handel treiben, ihre Waren beim Zoll anmelden. Davon wären laut DIHK "mindestens 30.000 deutsche Exportunternehmen" betroffen. Zudem müssten 40.000 Unternehmen Zollanmeldungen abgeben, weil sie aus Großbritannien importieren. Die Zahl der zusätzlichen Zollanmeldung beziffert der DIHK auf 14,6 Millionen pro Jahr, die geschätzten Kosten für die Gesamtzahl der Zollanmeldungen auf 200 Millionen Euro pro Jahr. Diese Daten verdeutlichen: Die Arbeit zum Brexit steht noch bevor. Und je früher Unternehmen damit anfangen, sich mit dem Brexit zu befassen, desto besser. Mehr zum Thema finden Sie im Dossier Großbritannien www.verkehrsrundschau.de/dossiers Die Serie Der Austritt und die FolgenIn unserer Brexit-Serie befassen wir uns mit den Folgen des Brexits und geben Tipps, wie sich die Unternehmen darauf vorbereiten können.- Teil 1: Die rechtlichen Grundlagen zum Brexit und die verschiedenen Brexit-Szenarien (VR 50)- Teil 2: Wie Unternehmen ihre Verträge an den Brexit anpassen sollten (VR 1/2)- Teil 3: Was sich bei der Zollabwicklung verändern könnte (VR 3/4)- Teil4: Praxishinweise für Unternehmen zum Umgang mit dem Brexit (VR 5) Wie Grossbritannien den Brexit vermeiden kann Der Exit vom Brexit: Ist ein Rückzieher überhaupt möglich?Diese Variante würden viele in der Wirtschaft sowohl in Großbritannien wie auch auf dem europäischen Festland bevorzugen: Wenn Großbritannien einen Rückzieher macht und beschließt, den Antrag auf den EU-Austritt rückgängig zu machen.Doch wäre so ein Schritt rechtlich überhaupt möglich, und zwar seitens der EU? Das wollte das oberste schottische Zivilgericht vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) wissen. Wie bei solchen eiligen Anträgen üblich, beantwortet zunächst ein Generalstaatsanwalt die Anfrage. Und der hat entschieden: Ja, Großbritannien könnte den Brexit-Antrag einseitig zurückziehen und das Austrittsverfahren damit stoppen. Dies gelte bis zum Abschluss eines Austrittsabkommens. Allerdings ist dies an einige Voraussetzungen geknüpft, unter anderem daran, dass die Rücknahme von Großbritannien förmlich dem Europäischen Rat mitgeteilt wird. Am Montag dieser Woche hieß es dann in den Medien, dass der EuGH der Einschätzung des Generalstaatsanwaltes gefolgt ist. Es scheint allerdings völlig ausgeschlossen, dass so ein Rücktritt vom Austritt ohne eine neue Volksbefragung erfolgt. Eine solche Abstimmung müsste jedoch vom Unterhaus beschlossen werden. Dafür gibt es zumindest derzeit keine Mehrheit.Kommt es jedoch nach den Beratungen im Unterhaus bis zum 11. Dezember ( nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) zu keiner Einigung, halten Beobachter es für durchaus möglich, dass sich im Parlament doch eine Mehrheit für eine erneute Volksabstimmung findet. Sollte dann die Mehrheit für den Exit vom Brexit stimmen, könnte Großbritannien den Austritt rückgängig machen.Ursprünglich waren die EU-Staaten der Auffassgung, dass sie einem solchen Antrag eines Wiedereintritts der Briten zustimmen müssten. Dem hat jetzt das EuGH widersprochen. Großbritannien könnte demanch also einseitig den Wiedereintritt beschließen.Allerdings wäre dazu jetzt Eile geboten. Die Möglichkeit einer einseitigen Rücknahme besteht für Großbritannien laut EuGH bis zum Ende der Zweijahresfrist nach seiner Austrittserklärung. Diese Frist endet am 29. März 2019. cd

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