Droht Deutschland die Rezession?

"In der Summe mehren sich die wirtschaftlichen Abwärtsszenarien. Die EU-Kommission hat jüngst die Wachstumsprognose deutlich nach unten korrigiert. (...) Am schlechtesten kommt Deutschland weg. (...) Wenn Russland den Gashahn komplett zudreht, ist eine Rezession nicht ausgeschlossen." Diese Sätze schreibt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln in seinem monatlichen Kurzbericht Anfang August. Eine Rezession in Deutschland - die IW-Experten schließen das nicht aus. EMI rutscht in den negativen Bereich Ähnlich wertet Ulrich Kater, Chefvolkswirt der DekaBank, in seinem Kommentar zum Einkaufsmanagerindex (EMI) des Bundesverbands Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME): "Schaut man (...) auf die Unsicherheiten und die zurückgehende Gesamtnachfrage, so liegt eine Rezession nahe, die mehr als nur eine technische ist", wird Kater zitiert. Für den monatlich erstellten S&P Global/BME-Einkaufsmanager-Index (EMI) befragt der BME rund 500 Einkaufsleiter und Geschäftsführer der verarbeitenden Industrie in Deutschland. Ende Juli rutschte der EMI das erste Mal seit zwei Jahren "in den negativen Bereich", was im BME-Verständnis ein Wert von unter 50 ist. Überraschend sei das nicht gewesen. "Das Abrutschen des EMI unter die psychologisch wichtige Referenzlinie von 50 Punkten hat sich bereits in den vergangenen Monaten angedeutet", teilt BME-Vorstandsvorsitzende Gundula Ullah mit. Hauptgrund für die negative Entwicklung sei das von den Unternehmen übermittelte größte Minus beim Auftragseingang seit Mai 2020. Für diese stark gefallene Nachfrage sei eine Reihe von Faktoren verantwortlich, wie zum Beispiel die allgemein zunehmende Unsicherheit, der damit verbundene Rückgang der Investitionen, explodierende Preise, zu hohe Lagerbestände bei den Kunden und anhaltende Störungen in den Lieferketten. "Der Trend ist gesetzt, es könnte eher noch schlimmer werden", kommentiert BME-Sprecher Frank Rösch gegenüber der Verkehrsrundschau. "Die konjunkturelle Entwicklung dürfte auf Monate hinweg schwierig bleiben", fügt er hinzu. Das gelte sowohl für die Industrie als auch für den Servicesektor. Denn eine Besserung der aktuellen Situation zeichne sich gegenwärtig nicht ab: Corona könnte im Herbst zu Personalausfällen in der Wirtschaft führen und damit die Lieferketten zusätzlich belasten. Auch der Konflikt in der Ukraine werde sich hinziehen. Die Spannungen zwischen China und Taiwan beziehungsweise den USA würden andauern, was den internationalen Schiffsverkehr über die sogenannte Taiwan-Straße wohl auf längere Sicht beeinträchtige. Kein Wort von Rezession Auffällig bei der Antwort des BME-Sprechers: kein Wort von Rezession. Volker Treier, Außenwirtschaftsexperte beim deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK), umschifft das Wort ebenfalls und benutzt in seiner Antwort an die Verkehrsrundschau stattdessen "schwache Wirtschaftsentwicklung" und "abkühlende Konjunktur". Und auch Rolf Bürkl vom Daten- und Analytikunternehmen GfK, das jeden Monat den viel beachteten KonjunkturKonsumklima-Index veröffentlicht, auf dem es zurzeit nur bergab geht, will das Wort "Rezession" nicht gebrauchen. Lieber spricht auch er von einer zurzeit "schwachen wirtschaftlichen Entwicklung". Für Stefan Kooths, Konjunkturchef am Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel), ist das nicht verwunderlich (siehe Kasten). "Die Vorstellung der Rezession schwingt bei vielen Analysen zurzeit mit, aber es ist nicht immer klar, was genau gemeint ist - von einer Konjunkturdelle bis zum herben Produktionseinbruch ist alles dabei", sagt er. Und erklärt: Die in der Öffentlichkeit gängige Definition sehe eine Rezession dann gegeben, wenn in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen die Wirtschaftsleistung rückgängig sei, das Bruttoinlandsprodukt also sinke. Wenn in den nächsten Wochen oder Monaten also öfter einmal das Wort Rezession genannt werde, erläutert Kooths, sei mit großer Wahrscheinlichkeit diese Definition gemeint. Ökonomen sei das aber zu formalistisch. Sie verstehen unter einer Rezession eine unterhalb des Normalniveaus sinkende Auslastung der gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten, erklärt er. Ihm zufolge sei diese Situation im laufenden Sommerhalbjahr bereits eingetreten. Das habe aber andere Gründe gehabt als eine Rezession "der gängigen Definition". Diese wird unter anderem durch mangelnde Nachfrage bestimmt. Mangelnde Nachfrage sei jedoch noch nicht das dominante Thema für die Unternehmen - auch wenn der Einzelhandel schon jetzt über Umsatzeinbußen klagt. Diese spiegeln laut Kooths zurzeit eher eine Normalisierung nach dem Corona-Schub wider. Es braucht jetzt zügige Entscheidungen Grundsätzlich aber sei die Nachfrage nach Produkten bislang weiter vorhanden, weiß der Konjunkturexperte. Die Auftragsbücher - gerade im Industriesektor - seien oft gut gefüllt. Aber die Produktion käme aus Mangel an Material oder auch Arbeitskräften nicht hinterher. Deshalb warnt Kooths davor, bei eventuell aufkommenden Rezessionsdebatten reflexhaft auf die üblichen Mittel zur Bekämpfung von Rezessionen zurückzugreifen. "Die Vorstellung, man müsse der aktuellen Situation mit irgendwelchen wirtschaftlich stimulierenden Konjunkturprogrammen jetzt entgegenwirken, würde alles nur noch verschlimmern, weil wir damit den Preisauftrieb weiter anheizen", sagt er. Was stattdessen getan werden sollte? "Kurzfristig hat die Bundesregierung sehr wenige Möglichkeiten, der Schwächephase irgendetwas entgegenzusetzen, weil es hier um physische Knappheiten geht, an der keine Politik der Welt etwas ändern kann", erklärt Kooths. Trotzdem sieht er Handlungsmöglichkeiten für die Regierung: Sie müsse "zügig" Entscheidungen treffen, wie es nun mit der Energieversorgung in Deutschland weitergehen soll, nachdem russisches Erdgas "als Brückenenergieträger für die Energiewende" weggefallen sei. "Durchwursteln und Auf-Sicht-Fahren ist kein Ersatz für eine neue Strategie", warnt er. Es brauche langfristig verlässliche Investitionsbedingungen und Technologieoffenheit - von der Atomkraft bis hin zur heimischen Erdgasförderung. Hilfreich und möglich für die Regierung sei außerdem, Bürokratie überall abzubauen, wo es möglich sei. Neue Bürokratiemonster wie die EU-Taxonomie-Verordnung oder das Lieferkettengesetz seien hingegen kontraproduktiv, kritisiert der IfW-Experte. Nicht Rezession, sondern Krise? "Rezession ist ein großes Wort - und zwar eins, das meist dann bemüht wird, wenn eigentlich 'Krise' gemeint ist", schränkt auch Professor Thomas Wimmer, Vorstandsvorsitzender der Bundesvereinigung Logistik (BVL), ein. In einer Krise würde Deutschland sich allerdings sehr wohl befinden: Wirtschaft, Energie, Fachkräfte, Gesundheit, Umwelt nennt er als Stichworte. "Aber wir haben mehrfach eindrucksvoll bewiesen, dass wir mit Krisen umgehen können, beispielsweise während der Corona-Pandemie 2020/21 oder in der Lehman-Krise 2008/09 (der weltweiten Finanzkrise, Anm. d. Red.)", sagt Wimmer in Bezug auf den Logistiksektor. Unabhängigkeit, Flexibilität und Zuverlässigkeit würden für die Branche immer wichtiger. Dafür sei es nötig, das "Mindset" zu ändern. "Resilientere Lieferketten erfordern in vielen Prozessen radikales Umdenken, nicht zuletzt von der bisherigen Priorität 'Kosten' hin zu den neuen Prioritäten 'Verlässlichkeit' und 'Nachhaltigkeit'", gibt er der Branche zu bedenken. Beim Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) sieht Vorstandssprecher Dirk Engelhardt Deutschland ebenfalls noch nicht zwangsläufig in eine Rezession abrutschen: "Da eine Rezession von vielen wirtschaftlichen Faktoren bestimmt wird, ist es noch ungewiss, ob es hierzu kommen wird." Von einer rückläufigen wirtschaftlichen Entwicklung in einigen Wirtschaftsteilen gehe man beim BGL jedoch aus. Wie stark einzelne Bereiche der Transportbranche davon dann betroffen sein könnten, lasse sich derzeit schwer absehen. "Das haben die Erfahrungen mit Corona gezeigt", sagt Engelhardt. Mehr zum Thema finden Sie unter #Konjunktur www.verkehrsrundschau-plus.de/hashtag In Kürze Noch sind die Auftragsbücher vieler Hersteller gut gefüllt. Doch mangels Materialien können viele Firmen nicht produzieren. Und noch schlimmer: Die Konsumlaune der Endverbraucher trübt sich ein. Kein Wunder, dass sich alle fragen: Ist das eine Krise oder rutscht Deutschland in die Rezession? Rezession – wo das Wort herkommt Rezession bedeutet Abschwung oder auch Rückgang und hat seine Wurzeln im lateinischen Verb "recedere", was mit "zurückweichen" übersetzt werden kann. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte es sich als Lehnwort aus dem Englischen "recession" für die Bezeichnung eines schrumpfenden Wirtschaftswachstums im deutschsprachigen Raum durch. kw „Unsicherheit ist Gift für die wirtschaftliche Entwicklung" Interview mit Professor Stefan Kooths, Volkswirt und Direktor des Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum am Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) Steuert Deutschland auf eine Rezession zu?Deutschland driftet durch eine wirtschaftlich schwierige Phase und das wird aller Voraussicht nach noch eine Weile andauern. Bislang haben vor allem produktionsseitige Faktoren die Erholung gedämpft – das hat noch nichts mit einer Rezession im eigentlichen Sinne zu tun. Die jetzt ins Rollen gekommene Energiepreislawine hat aber das Potenzial für heftige Einschläge im Konjunkturverlauf. Die kommenden Quartale drohen daher, ruppig zu werden.Was kann in Deutschland getan werden, um aus der schwierigen Phase möglichst schnell herauszukommen?Auf viele Faktoren, die jetzt für die Schwächephase verantwortlich sind, hat Deutschland wenig Einfluss. Was die Bundesregierung allerdings tun sollte, wäre, schnell Klarheit für die langfristige Energieversorgung zu schaffen und Bürokratie abzubauen, überall. Unsicherheit ist Gift für die wirtschaftliche Entwicklung. Besonders toxisch ist die Unsicherheit über wichtige Rahmenbedingungen.Was raten Sie den Unternehmen der Transport- und Logistikbranche in der aktuellen Situation? Logistik wird immer gebraucht. Auch in Zukunft. Sie ist die Spinne im Netz der Weltwirtschaft. Existenzängste sind daher unangebracht. Lieferketten robuster zu machen, wird aber eine wichtige Rolle spielen, auf die sich die Logistiker einstellen müssen. kw

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