Der Lkw als Benchmark

Die Entwicklung neuer Produkte, neuer Lösungen: Damit tut sich der Schienengüterverkehr schwer. Jetzt hat ein Unternehmen aus der Chemieindustrie gezeigt, dass Innovationen auch in dieser Branche sehr wohl möglich sind. "Unser Logistikkonzept in Ludwighafen ist eine der größten Innovationen im Schienengüterverkehr in den letzten 20 Jahren", sagt Thorsten Bieker, Leiter Logistik bei BASF am Standort Ludwigshafen. 2015 begann der Chemiekonzern mit der Umsetzung dieses Konzeptes. "Der Auslöser war, dass wir permanente Verbesserungen im Straßengüterverkehr beobachtet haben", sagt Bieker. Als Beispiel nennt er das Platooning und das autonome Fahren, aufgrund dessen das Beratungsunternehmen PricewaterhouseCoopers eine Effizienzsteigerung beim Lkw in Höhe von etwa 28 Prozent vorhergesagt hat. "Unser Unternehmen legt großen Wert auf Nachhaltigkeit und Sicherheit", sagt Bieker. Deshalb versucht BASF so viel wie möglich per Bahn oder Binnenschiff zu transportieren. 42 Prozent des Transportvolumens in Ludwigshafen werden derzeit mit dem Binnenschiff befördert, 26 Prozent übernimmt die Bahn und 32 Prozent landen auf dem Lkw. Lkw macht der Bahn große Konkurrenz Wenn jetzt jedoch dem Straßengüterverkehr große Effizienzsprünge gelingen, kann sich auch BASF diesen Verbesserungen nicht verschließen. Die Gefahr bestünde darin, dass die Ware von der Schiene auf die Straße abwandert. "Wir haben daher nach Möglichkeiten gesucht, wie wir auch im Schienengüterverkehr deutlich besser werden können", sagt Bieker. Das integrierte Lager- und Transportkonzept besteht im Wesentlichen aus drei Teilen: den vollautomatischen Förderfahrzeugen (Automated Guided Vehicles, AGV), den bahnoptimierten Tankcontainern mit entsprechenden, besonders leisen Tragwagen und aus einem vollautomatischen Tankcontainerlager. Als neuer Transportbehälter kommt ein 45- beziehungsweise 52-Fuß-Container zum Einsatz, den BASF zusammen mit dem Tankcontainerhersteller van Hool entwickelt hat. Mit einem maximalen Volumen von 73.500 Litern und einer Zuladung von bis zu 67 Tonnen verfügt der Container über mehr als die doppelte Ladekapazität im Vergleich zu einem üblichen Tankcontainer. Der intermodalfähige Tankcontainer hat damit in etwa dieselbe Kapazität wie ein Chemiekesselwagen, in dem die Güter - Grundchemikalien und Zwischenprodukte - bislang transportiert wurden. Eine Weltneuheit sind laut BASF die AGV, die im Werk Ludwigshafen zum Einsatz kommen. Sie ähneln den AGV, die in den Seehäfen auf einer hermetisch abgeschlossenen Fläche Container vom Schiff zu einer Lageranlage transportieren. Die BASF-AGV können aber im Gegensatz zu den Fahrzeugen in den Seehäfen durch eine gleichmäßige Gewichtsverteilung über 16 lenkbare Halbachsen und 32 Räder auf einer normalen Straßeninfrastruktur eine Nutzlast von 78 Tonnen (Gesamtgewicht 110 Tonnen) fahren. Außerdem sind sie mit moderner Sensorik ausgestattet, die es erlaubt, vollautomatisch auf drei Zentimeter genau zu fahren (siehe Kasten Seite 18). Über Kameras werden die Bilder der Fahrt in Echtzeit über ein LTE/5G-Netz in eine Leitstelle übertragen. Hier überwacht ein Mitarbeiter das System. Er kann bremsend eingreifen oder das Fahrzeug teleoperiert fahren. Modernste Anlage ihrer Art Insgesamt hat BASF 950 Tankcontainer bestellt, davon sind 400 ausgeliefert. Es kommen 342 Tragwagen hinzu, von denen 200 vom Chemiekonzern bereits im Einsatz sind. Bei den AGV hat BASF acht bestellt, vier sind ausgeliefert und einer davon transportiert bereits Gefahrgut im täglichen Geschäft. Die anderen drei folgen in den nächsten Wochen. Das neu gebaute Tankcontainerlager wiederum bezeichnet Bieker als "die modernste Anlage ihrer Art". Es verfügt über zwei Ladekräne mit einer Tragkraft von 75 Tonnen. Platz ist dort für 2000 TEU (20-Fuß-Container). Das Lager funktioniert vollautomatisch und erfüllt höchste Sicherheitsanforderungen. Bei der Konzeption hat sich BASF an den automatischen Terminals in den Seehäfen orientiert. "Es gibt jedoch zwei entscheidende Unterschiede", sagt Bieker. "Unsere Anlage hat Straßen- und Schienenanschluss und zugleich eine Lagerfunktion." So können sechs Container übereinandergestapelt werden. Das erklärt die hohe Kapazität von 2000 TEU. Sicherheit hat oberste Priorität BASF hat mit der ersten Krananlage, die 75 Tonnen heben kann, die Grundlage gelegt. Aber mit Reachstackern oder Rubber Tired Gantry Cranes gibt es auch preiswertere Alternativen im Markt, die um die 75 Tonnen bewegen können. Daher soll auch bereits in absehbarer Zeit in Schwarzheide, Antwerpen und Tarragona die Möglichkeit bestehen, die BASF-Tankcontainer vom Bahnwagen auf AGV umzuschlagen. "Wir haben sehr viel in die Sicherheit investiert", nennt er den Grund für weitere Unterschiede im Vergleich zu anderen Tankcontainerlagern. So gibt es einen Stauraumkanal unter dem Lager. Das Lager wird mit 72 Kameras überwacht. Dazu gehören Infrarot-Kameras, die Undichtigkeiten erfassen können. Zudem gibt es Feuerlöschkanonen auf den Kränen und hochmoderne Sensorik, die Leckagen detektieren kann. Im Tankcontainerlager selbst befindet sich kein Mensch. Die Kräne werden automatisch gesteuert. Ein Mitarbeiter in einer knapp zwei Kilometer entfernten Messwarte überwacht den Betrieb der Anlage. "Wir setzen zur Überwachung neben Sensorik im Lager auch Sensorik an den Tankcontainern ein. Hierzu sind produktabhängig Tankcontainer mit Druck- und Temperatursensoren ausgestattet", zählt Bieker eine weitere Sicherheitsmaßnahme auf. Werden Grenzwerte überschritten, erfolgt eine Meldung in der Messwarte und der Tankcontainer wird vom Kransystem in einen Havariebereich in der Mitte der Anlage ausgelagert, wo ihn die Feuerwehr entsprechend untersuchen kann. Mit dem Lager kann BASF einige Vorteile realisieren. "Negative Auswirkungen von Zugverspätungen auf die Produktion können durch ein Zwischenlager gemildert werden. So konnten wir im letzten Jahr während des Niedrigwassers durch das Entkopplungskonzept über das Tankcontainerlager die Produktionen mit fünf Ganzzügen pro Woche mit Natronlauge versorgen und negative Auswirkungen von Zugverspätungen reduzieren", sagt Bieker. Ein anderer Vorteil liegt in der Entkopplung von Produktionen. Das Produkt der einen Produktion ist beispielsweise der Rohstoff der nächsten Veredlungsstufe. BASF nennt dieses Prinzip Verbund. "Zur optimalen Produktionssteuerung ist häufig eine Zwischenlagerung erforderlich, die jetzt im Tankcontainerlager erfolgen kann." Effizienzgewinne von 25 Prozent "Wir konnten mit unserem intermodalen Lösungskonzept Effizienzgewinne in Höhe von insgesamt 25 Prozent realisieren", bilanziert Bieker. Eine große Einsparung resultiert aus der Verwirklichung schnellerer Umläufe. "Die Bahnprozesse in unserem zehn Quadratkilometer großen Gelände mit 160 Ladestellen und 40 Werkstraßen sind sehr komplex", erklärt der Logistikexperte. Wenn die Ware in rund 20 Ganzzügen pro Tag im Werk ankommt, müssen die Waggons losgekoppelt und am Ablaufberg 40 neue interne Züge gebildet werden. Anschließend müssen diese Züge in die Werkstraßen gefahren werden und dort auf die Ladestellen verteilt werden. Für den Transport eines Kesselwagens zur Ladestelle veranschlagt er einen Tag. Hinzu kommen die Entladung, die Rückfahrt und gegebenenfalls noch Reparaturzeiten, macht zusammen einen Umlauf von drei bis vier Tagen. "Mit dem AGV in Kombination mit dem BASF Class Tank Container benötigen wir nur noch einen Tag." Bei einer Gesamtumlaufzeit von 14 Tagen bedeutet das eine Verringerung der Transportzeit um etwa 25 Prozent. "Wir benötigen weniger Bahnwagen und Tankcontainer, dies spart einen erheblichen Teil der Kosten", sagt Bieker. Die Kosteneinsparung beziffert er ebenfalls auf rund 25 Prozent. Derzeit setzt BASF die Tragwagen und die BASF-Tankcontainer zwischen den BASF- Standorten in Antwerpen, Schwarzheide und Ludwigshafen ein. Auch aus einigen Tanklagern in den Seehäfen wird das Werk Ludwigshafen mit diesen neuen Tankcontainern beliefert. "Zu Kunden fahren wir derzeit nur vereinzelt. Mit der geplanten Verdopplung der Kapazität des Tankcontainerlagers im Jahr 2022 wollen wir auch die Kundenverkehre umsetzen", sagt Bieker. Außerdem sollen die neuen Tankcontainer in der nahen Zukunft auch für Transporte für Rohstofflieferungen aus Russland und zu den BASF-Standorten in China eingesetzt werden. 175 45-Fuß-Tankcontainer, die über eine Zulassung für Russland und China verfügen, sind bereits in Bau. Die BASF-Tankcontainer in Verbindung mit dem AGV für den Vor- und Nachlauf sind aus Sicht von Bieker auf dem Weg, ein ganz neues Segment im intermodalen Transport zu werden. "Damit erweitern wir den Intermodalverkehr auf 75 Tonnen. Zudem schonen wir die Umwelt, da wir mit einem AGV zwei 20-Fuß- oder 24-Fuß-Container befördern können und damit zwei Lkw-Sendungen einsparen." Dass die AGV per Batterie angetrieben werden, ist ein weiterer Umweltvorteil. Doch was ist der Vorteil eines fahrerlosen AGV, wenn der Fahrer nicht im Fahrzeug, sondern im Leitstand sitzt? "Hierdurch ist bereits eine viel effizientere Logistik möglich", sagt Bieker. Das AGV fährt immer vom Tankcontainerlager auf eine Warteposition vor der Ladestelle. Dort endet die Tätigkeit des Überwachers. Er kann sich dann auf ein anderes AGV zuschalten und einen anderen Transport überwachen. An der Ladestelle selber verrichtet ein vollautomatisches Rangierprogramm die Aufgabe der Umstellung. Der Tankcontainer kann bei der Ladestelle auf einem Rahmen abgestellt werden, sodass das AGV nicht bei der Verladung erforderlich ist und für andere Transporte zur Verfügung steht. Bieker sieht das Konzept keineswegs nur als reine BASF-Lösung an, sondern als eine, die für die gesamte chemische Industrie geeignet ist. BASF will auch mehr Lieferanten in die Belieferung mit den neuen Tankcontainern einbeziehen. "Das ist der Vorteil dieses Konzeptes: Es ist modular aufgebaut und man kann sich beispielsweise auch nur den Tankcontainer mit Tragwagen zulegen", sagt Bieker. Damit ist es BASF gelungen, eine Neuheit im Schienengüterverkehr zu etablieren. Bieker merkt kritisch an: "Es gibt nicht so viele Innovationen im Schienengüterverkehr." Häufig dauert es zudem ewig, weil es sich um sehr komplexe Neuerungen handelt wie das ECTS-System. "Wir waren da sehr schnell. Das ist sicher nicht typisch für den Schienengüterverkehr", sagt Bieker. Die Schnelligkeit und der Mut zu dieser Innovation hängen womöglich auch mit dem klaren Bekenntnis von BASF zusammen, das Bieker so formuliert: "Wir wollen nachhaltig transportieren und mehr Güter mit der Bahn transportieren." Mehr zum Thema im Dossier Kombinierter Verkehr www.verkehrsrundschau.de/dossiers Mit 110 Tonnen fahrerlos auf öffentlichen Strassen BASF beantragt die Zulassung der AGV für den StraßenverkehrBASF will seine fahrerlosen AGV nicht nur im Werk betreiben."Bei den AGV diskutieren wir mit den Zulassungsbehörden über eine Fahrzeugzulassung", sagt Bieker. Die soll streckenabhängig erfolgen. Sinnvoll sind laut Bieker Strecken im Umkreis eines Terminals von 20 bis 25 Kilometer. Eine in Ludwigshafen angedachte Teststrecke soll das BASF-Werksgelände mit KTL und zwei anderen Logistikunternehmen verbinden. Diese Teststrecke für das autonome Fahren, die neu gebaut werden muss, soll eine Länge von vier Kilometern haben und sich mit öffentlichen Straßen kreuzen.Doch ist ein solcher Transport wirklich möglich? Gefahrgut auf einem AGV mit über 100 Tonnen Gesamtgewicht fahrerlos auf einer öffentlichen Straße zu transportieren? Bieker ist überzeugt: Das ist machbar."Das Gewicht ist kein Problem. Da das AGV 16 Halbachsen hat, ist die Achslast trotz eines Gesamtgewichtes von 110 Tonnen geringer als bei einem 40-Tonner", erklärt der Logistikleiter. Bleiben Sicherheitsbedenken. Auch hier gibt es diverse Sicherheitsfeatures, die einen solchen Transport möglich machen. Das Fahrzeug fährt nur so schnell, dass die Sensorik immer einen sicheren Stopp vor einem Hindernis oder Verkehrsteilnehmer sicherstellt. Außerdem hat das Fahrzeug vorn und hinten taktile Bumper, die bei Berührung das Fahrzeug zum Stehen bringen. Zum Einsatz kommt auch eine für den autonomen Verkehr neu entwickelte Seitensensorik, die deutlich über die in Lkw jetzt erforderlichen Assistenzsysteme hinausgeht. Diese stoppt das Fahrzeug, sobald sich ein Mensch dem Fahrzeug von der Seite nähert. Zudem fährt das AGV über eine Transponderspur und "ist damit auf drei Zentimeter genau unterwegs". Und dann sind zehn Kameras an Bord, die über ein LTE/5G-Netzwerk Livebilder in Echtzeit in eine Messwarte übertragen."Unser Fahrer sitzt also im Leitstand. Von da aus hat er das Fahrzeug und dessen Umgebung immer im Blick und kann im Notfall bremsend eingreifen", sagt Bieker. cd