Hamburg. Auch 66 Jahre nach Ende des 2. und 93 Jahre nach Beendigung des 1. Weltkrieges liegen auf dem Grund von Ost- und Nordsee noch unvorstellbare, hochbrisante Erblasten. Nur in den deutschen Hoheitsgewässern sowie der deutschen Außenwirtschaftszone (AWZ) werden um die 1,6 Millionen Tonnen Munitionsrückstände vermutet, darunter auch etwa 5000 Tonnen chemische Kampfstoffe. Zu diesem Ergebnis kommt eine hochkarätig besetzte Arbeitsgruppe mit Experten von Bund und den norddeutschen Küstenländern nach intensiver, dreijähriger Recherchearbeit. Der über 1000 Seiten starke Bericht „Munitionsaltlasten im Meer" wurde jetzt in Hamburg der Öffentlichkeit vorgestellt. Zeitgleich wurde eine spezielle Internet-Seite offiziell freigeschaltet: www-munition-im-meer.de
Aufwändige Recherche-Arbeiten in vielen Archiven
Es ist das erste Mal, dass eine so detaillierte Bestandsaufnahme für alle in den beiden Meeren versenkten Munitionsbeständen vorgenommen wurde. Bislang lag lediglich eine Studie aus dem Jahr 1993 vor, in der allerdings ausschließlich die Belastung der deutschen Küstengewässer mit chemischen Kampfstoffen aufgeführt wurde. Die Fakten wurden in aufwändigen Recherchen zusammengetragen, und zwar aus einer Vielzahl von Archiven und Behörden im In- und sogar Ausland. Dabei sind bislang nur ein Bruchteil dieser Quellen erschlossen. Auf der anderen Seite sind viele Aufzeichnungen auch verloren gegangen, so etwa für den Bereich der Küstenlinie der ehemaligen DDR. Die Beseitigung dieser Dokumente erfolgte allerdings bewusst mit dem sich abzeichnende Ende der DDR.
Die auch nach Jahrzehnten immer noch äußerst gefährliche und unter Bergungsgesichtspunkten sogar immer gefährlicher werdende Altmunition – Stichwort: „Korrosion" und „chemische Reaktion" – wurde mehrheitlich bei Kriegsende ins Meer gekippt, frei nach dem Motto „Aus den Augen aus dem Sinn". Was aus damaliger Sicht als „Lösung" auf der Hand lag, erweist sich aus heutiger Sicht „als keine tolle Lösung", brachte es Niels-Peter Rühl, ehemaliger Vizepräsident des BSH (Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie) und Mitglied der Arbeitsgruppe auf den Punkt. Die Masse der Altmunition stammt dabei aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Andere Munitionsrückstände sind beispielsweise Reste ehemaliger Minensperren, oder Munition, die sich an Bord von versenkten Frachtern oder Kriegsschiffen befindet.
Der Atlas versteht sich als ein lebendiges Dokument
Der jetzt vorliegende Bericht kommt nach Einschätzung der Fachleute genau zur rechten Zeit. Denn im deutschen Küstenvorfeld von Nord- und Ostsee werden in den kommenden Jahren verschiedene Offshore-Windparks errichtet, deren Strommengen über entsprechende Seekabeltrassen ans Festland geleitet werden müssen. Das aber bedeutet: die entsprechenden Flächen müssen aufwändig abgesucht werden. Die in dem Bericht zusammengetragenen Fakten können bei den Vorplanungen bereits von großem Nutzen sein, sind die Experten überzeugt. Zugleich gehen sie davon aus, dass auch gerade im Zuge des Baus dieser Windparks neue Erkenntnisse über neue Munitionsfunde oder -versenkungsgebiete im Wortsinne zutage gefördert werden. Diese und weitere Daten sollen in den Atlas eingearbeitet werden, den die Fachleute klar als „lebendes Dokument" beschreiben. Auch darauf legten die Autoren einen großen Wert: Das Gesamtwerk ist für jedermann im Internet abrufbar. „Wir sind an einem Höchstmaß an Transparenz interessiert", betonte Jens Sternheim, Mitglied der Autorengruppe des Abschlussberichtes und Mitarbeiter des Innenministeriums in Schleswig-Holstein.
Beseitigung der gesamten Munitionsrückstände im Meer ist illusorisch
Die Chancen dafür, dass die Munitionsaltlasten systematisch entfernt werden, halten die Experten für äußerst gering. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen ist eine solche Aktion einfach nicht bezahlbar. Zum anderen steht dafür auch keine geeignete Technik zur Verfügung. So müssen heute im Zweifelsfall immer noch Taucher für die letzte Gewissheit sorgen. Eine Arbeit, die mit höchster Lebensgefahr verbunden ist. Daher appellierten die Fachleute auch wiederholt an die Industrie, entsprechende Technologien zu entwickeln, mit denen zum Beispiel die Erkundung von Verdachtsobjekten und -flächen wesentlich effektiver und vor allem sicherer für den Menschen betrieben werden kann. Angesichts der begrenzten Ressourcen komme es mehr denn je darauf an, eine sorgfältige Abwägung zwischen Bergungsaufwand und dem zu erwartenden Ergebnis zu treffen. In vielen Fällen sei es einfach besser, die bekannten Verdachtsbereiche systematisch zu beobachten. Frei nach dem Motto: Die Zeit heilt auch diese Wunde.
Ausdrücklich wiesen die Fachleute darauf hin, dass mit dem Abschlussbericht auch das unmissverständliches Signal an die Politik geht, das Problem „Umgang mit den Munitionsaltlasten" anzupacken und dafür die entsprechenden Ressourcen bereitzustellen. Und auch diese klare Empfehlung sprachen die Experten aus: Deutschland benötigt eine zentrale Koordinationsstelle für das Sammeln von Meldungen über neue Altmunitionsfälle auf See sowie alle mit diesem Thema zusammenhängenden Fakten. Das zeigte sich in Hamburg: Eine derartige „Sammel- und Koordinationsstelle" für die Nord- und Ostsee wäre idealerweise in Schleswig-Holstein angesiedelt.
Ostsee-Pipeline zeigte: Altmunition geht alle Anrainer etwas an
Das Thema „Altmunition im Meer" ist allerdings nicht nur ein deutsches Thema. So wiesen die Experten in ihren Beiträgen darauf hin, dass dieser Sachverhalt alle Anrainer an Ost- und Nordsee etwas angeht. Aktuell wurde das mit dem Bau der neuen Gasversorgungsleitung „Ostsee-Pipeline" vom russischen Vyborg nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern deutlich. So wurden im Zuge der Trassenerkundung zahlreiche neue, mit Altmunition belasten Seegebiete ermittelt. In besonders kritischen Bereichen wurde die Leitung dann sogar bewusst um diese Flächen herum verlegt. (eha)
Politiker