Bericht aus Berlin: Chaos im Netz

Die Bahn steht gerade wegen des 9-Euro-Tickets in den Schlagzeilen. Diese Debatte verdeckt die sich offenbar zuspitzende Situation im Schienengüterverkehr, die zu Reaktionen führt, die vor wenigen Monaten noch nahezu unvorstellbar waren. Insider spricht aus dem Nähkästchen Für großes Aufsehen im Schienengüterverkehr hat ein Video von Ralf Kloß gesorgt. Darin spricht Kloß, Vorstand Produktion bei DB Cargo und daher Insider, von einem "drohenden Chaos", "einem drohenden GAU auf unserem Produktionssystem". "Ich habe in den 40 Jahren bei DB Cargo eine solche Situation noch nicht erlebt", sagt Kloß in dem Video an seine Mitarbeiter angesichts zahlreicher Verspätungen. Noch nicht erlebt haben dürfte auch der DB-Konzern, dass sich eine solch erfahrene Führungskraft öffentlich von zu Hause in einem Video zu Worte meldet, das nicht nur einen Dank an die Mitarbeiter für das Ausbügeln diverser Probleme beinhaltet, sondern das man auch als Hilferuf verstehen kann oder sogar muss. Wenige Tage später wurde der Hilferuf erhört: DB-Chef Richard Lutz höchstpersönlich beschönigte die Lage auf dem Schienennetz in einer Pressekonferenz nicht. Ein "radikales Umsteuern" sei notwendig, ein "Weiter so ist keine Alternative", "anders sind die Wachstumsziele im Personen- und Güterverkehr nicht erreichbar". Man müsse das Netz einer Generalsanierung unterziehen. Als Auslöser nannte er neben den Baustellen die Nachfrageentwicklung: Fahrgäste und Güterverkehr seien schneller zurückgekehrt als erwartet. "Noch nie waren auf dem Netz so viele Züge unterwegs wie in diesen Tagen", sagte Lutz. Das Streckennetz sei jedoch nicht mitgewachsen. Im Gegenteil, die Substanz habe sich verschlechtert und der Investitionsrückstau vergrößert, so Lutz, der seit 2010 dem DB-Vorstand angehört und damit mitverantwortlich für den Investitionsstau ist. Lutz kündigte an, dass die Baumaßnahmen künftig gebündelt werden sollen. Dafür seien zwar längere Sperrpausen notwendig. Diese gingen aber durch bessere Vorplanung mit höherer Verlässlichkeit für alle Beteiligten einher, versprach der DB-Chef. Ab 2024 solle mit der Sanierung der Korridore begonnen werden, die sich dann bis Ende der 20er-Jahre hinziehe. Das Echo auf die Äußerungen von Lutz war enorm. So kritisierte das Netzwerk Europäischer Eisenbahnen (NEE) die Aussage von Lutz, in Zeiten starker Baumaßnahmen auch zeitweilig Verkehre auf die Straße zu verlagern. "Wer die Wachstumsziele für die Branche und die Klimaschutzziele einhalten will, kann nicht ernsthaft die Verlagerung auf die Straße in die Rechnung aufnehmen", echauffierte sich Ludolf Kerkeling, Vorstandsvorsitzender des NEE. "Die DB sollte nicht schon vor den Diskussionen mit weißen Fahnen wedeln", forderte Kerkeling. Skandalös und unprofessionell Ungewöhnlich auch, dass sich ein Aufsichtsratsmitglied der DB in der Öffentlichkeit zu Wort meldet: "Das aktuelle Bahnmanagement agiert skandalös und unprofessionell", sagte der Bundestagsabgeordnete der CDU Enak Ferlemann gegenüber der Wochenzeitung "Die Zeit". Dazu muss man wissen: Ferlemann war jahrelang als parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium für den Schienenverkehr zuständig. Bei der Besetzung des Vorstandes hatte er also durchaus Einfluss. Und sein Parteifreund Ronald Pofalla führte seit 2017 das Ressort Infrastruktur und gab im März 2022 bekannt, den Konzern zu verlassen. Angesichts dieser Äußerungen und Entwicklungen mehren sich Stimmen, die fordern, dass die Politik als Eigentümer der DB sich stärker einbringen und ein Machtwort sprechen müsse. Eine ungewöhnliche Äußerung kommt auch von einem Akteur, der mehr dem Straßengüterverkehrssektor zuzurechnen ist und daher eigentlich froh sein könnte, dass ein Konkurrent schwächelt. "Bereits heute haben Straßenlogistiker mit vielfältigen Herausforderungen wie dem Fahrermangel zu kämpfen", merkte Nikolja Grabowski an, Vorstand des Europäischen Ladungsverbundes Elvis. Er bezeichnete die Lage bei den Frachtkapazitäten äußerst angespannt. Seine Befürchtung: "Sollte das Wirrwarr im Bahnverkehr die Nachfrage nach Straßentransportkapazitäten weiter befeuern, könnte sich die Situation zuspitzen." Ungewöhnlich, dass von einer Verlagerung von der Schiene auf die Straße gesprochen wird. Noch ungewöhnlicher, dass die Akteure auf der Straße diese Güter gar nicht haben wollen. Mehr zum Thema finden Sie unter #DeutscheBahn www.verkehrsrundschau-plus.de/hashtag In Kürze Großen Unmut gibt es gerade bei den Cargo-Kunden der Deutschen Bahn (DB): Baustellen führen zu vielen Verspätungen im Netz. Auch zahlreiche Terminals verhängen Annahmestopps. Und eine Besserung ist zumindest in diesem und im nächsten Jahr nicht in Sicht.

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