Die deutsche Industrie sieht den Standort Deutschland mehr als je zuvor unter Druck. Rund ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung sei bedroht, ergab eine Studie im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Um auch in Zukunft international wettbewerbsfähig zu sein, seien private und öffentliche Mehrinvestitionen in Höhe von 1,4 Billionen Euro bis 2030 nötig.
BDI-Präsident Siegfried Russwurm sprach am Dienstag, 10. September, in Berlin von einem erschütternden Lagebild. Deutschland sei im internationalen Vergleich nahezu überall in den vergangenen Jahren zurückgefallen und habe ein fundamentales Standortproblem. „Das Risiko einer De-Industrialisierung durch die stille Abwanderung und Aufgabe gerade vieler Mittelständler nimmt kontinuierlich zu und ist teils schon eingetreten.“
Marode Verkehrsinfrastruktur und ausufernde Bürokratie
Im BDI-Auftrag legten die Strategieberatung Boston Consulting Group und das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) eine breit angelegte Analyse vor – zu Schwächen, aber auch Chancen der deutschen Industrie mit Millionen von Beschäftigten. Die Ergebnisse sind aus Sicht der Industrie ähnlich alarmierend wie die eines Berichts des früheren italienischen Regierungschefs und EZB-Chefs Mario Draghi zur Lage in der EU. Draghi schrieb, die europäische Wirtschaft müsse deutlich innovativer werden, um nicht den Anschluss im Wettbewerb mit den USA oder China zu verlieren.
Die Ergebnisse seiner Studie bezeichnete der BDI als Weckruf. „Die Probleme im Land türmen sich“, sagte Russwurm. Aktuell sei „das Geschäftsmodell Deutschlands in ernster Gefahr“.
Russwurm nannte im internationalen Vergleich höhere Energiepreise, eine marode Verkehrsinfrastruktur, ein nicht wettbewerbsfähiges Steuersystem und politische Unsicherheiten. Dazu kämen hohe Arbeitskosten, zunehmender Arbeitskräftemangel, eine ausufernde Bürokratie, ein zu langsamer Ausbau der Stromnetze und eine schleppende Digitalisierung.
Szenario schleichender Deindustrialisierung
Anders als früher ließen sich diese Wettbewerbsnachteile immer weniger durch die traditionellen Stärken der deutschen Industrie ausgleichen – Produktivität und Innovationen. Und: „Mehrere Säulen des bisherigen deutschen Industrieerfolgs sind gleichzeitig ins Wanken geraten: Die Zeit günstiger fossiler Gasimporte ist mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wahrscheinlich auf absehbare Zeit vorbei.“ Weiter heißt es unter anderem, ein Vorsprung in Bereichen wie der Verbrennertechnologie verliere an Bedeutung.
„Ohne entschlossenes Gegensteuern droht Deutschland ein Szenario schleichender Deindustrialisierung, in dem energieintensive Industriesektoren ihre Produktion nach und nach an andere Standorte verlagern, die Automobilindustrie bei der Elektromobilität deutlich an Weltmarktanteilen verliert und deutsche Unternehmen bei Zukunftstechnologien ins Hintertreffen geraten.“
Russwurm forderte mit Blick auf die Politik einen „großen Wurf“, um Deutschland im internationalen Wettbewerb wieder nach vorne zu bringen und Ziele bei der klimafreundlichen Transformation der Wirtschaft erreichen zu können. Deutschland müsse sich als Industrienation neu erfinden, heißt es in der Studie. Der Umbau erfordere eine der größten Transformationsanstrengungen seit der Nachkriegszeit.