Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer war Thema beim EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs. Warum sind die beschlossenen Maßnahmen unzureichend?
Ralf Nagel: Das Seenotschutzgebiet der EU-Operation Triton ist viel zu weit weg von dem Seegebiet, in dem die meisten Flüchtlingsboote in Seenot geraten. Triton ist anders als die ehemals von Italien durchgeführte Rettungsaktion „Mare Nostrum“ auf die küstennahen Gewässer vor Malta und Lampedusa konzentriert. Das bedeutet, dass die Handelsschifffahrt im Seegebiet zwischen Triton und libyscher Küste weiterhin bei der Flüchtlingsrettung helfen wird. Mit unserer Kritik stehen wir nicht allein: Auch die Bundeskanzlerin hat sich für eine deutliche Ausweitung der Schutzzone ausgesprochen.
Ist die Seenotrettung unter EU-Mandat die einzige realistische politische Option?
Nach internationalem Recht wäre auch Libyen für die Seerettung zuständig, jedenfalls in seinen Gewässern – das Land ist dazu politisch aber nicht in der Lage. Daher bleibt aus unserer Sicht nur eine deutlich verstärkte Rettungsanstrengung unter EU-Mandat. Der Vorwurf, dass man dadurch den Schleppern in die Karten spielt, ist bizarr. Es geht darum, Tausenden Menschen das Leben zu retten! Im Übrigen hat Italien im Rahmen von Mare Nostrum auch Schlepper aufgebracht und verurteilt. Denn an Bord der Rettungsschiffe waren auch Polizeikräfte.
Der VDR hat sich direkt an die Kanzlerin und an den Kanzleramtsminister gewandt und um Unterstützung gebeten. Gab es eine Reaktion?
Der Maritime Koordinator der Bundesregierung, Uwe Beckmeyer, hat im Auftrag der Bundeskanzlerin das Gespräch mit uns gesucht. Wir werden nach einem weiteren Informationsaustausch mit unseren Mitgliedern die Lage noch einmal bewerten und mit konkreten Vorschlägen an die Regierung herantreten.
Gibt es bereits Ideen?
Es würde beispielsweise helfen, wenn Schiffe im Falle einer Seenotrettung ärztliche Hilfe anfordern könnten. Die Besatzung eines Handelsschiffes ist schnell überfordert, wenn Hunderte Flüchtlinge an Bord geholt wurden, von denen viele unterkühlt und völlig entkräftet sind. Auch kommen Menschen mit infektiösen Krankheiten oder hochschwangere Frauen an Bord. Solche Szenarien sind dramatisch und leider sterben Menschen nicht selten noch auf den Schiffen an Unterkühlung. Hier wäre notfallmedizinische Hilfe dringend notwendig, die Seeleute auf einem Handelsschiff objektiv nicht leisten können.
Was halten Sie von der Option, mit militärischen Mitteln die Schlepper zu jagen?
Lösungen im Kampf gegen die Menschenschlepper zu finden, ist eine politische Aufgabe und nicht die der Handelsschifffahrt. Letztlich muss man – wie auch bei der Piraterie – die Drahtzieher ausfindig machen. Auf See kriegt man nur die kleinen Fische.
Wie helfen sich die Reeder selbst in dieser Situation?
Es gibt mehrere Leitfäden, beispielsweise von der IMO oder der International Chamber of Shipping: Die Broschüren geben zwar Anhaltspunkte, wie sich die Besatzungen auf große Zahlen von Flüchtlingen vorbereiten können. Aber ich will es nochmals betonen: Kein Handelsschiff ist in der Lage, angemessen Hilfe zu leisten und die eigene Besatzung vor Gefahren zu schützen. Was im Mittelmeer passiert, ist keine typische Seenotlage. Wenn zehn Mann Besatzung mehreren Hundert verzweifelten Menschen gegenüberstehen, ist das eine Extremsituation, für die man spezielle Kräfte benötigt.
Das Interview führte VR-Redakteur Dietmar Winkler